Bonn/Dortmund. Neue Studien zeigen: Erzieher ohrfeigen, Angehörige malträtieren Pflegebedürftige. Immer noch wird in Deutschland auch ganz primitiv geprügelt. Über die Attacken gegen Schützlinge redet kaum jemand. „Aber sie finden statt. Und sie werden nicht weniger”, sagt der Bonner Psychiater Rolf Dieter Hirsch.
Die Republik streitet über Ballerspiele, entsetzt schauen die Deutschen auf Mobbing im Klassenzimmer und Psychoterror am Arbeitsplatz. Was viele nicht sehen: Immer noch wird in Deutschland auch ganz primitiv geprügelt. Und zwar nicht nur auf dem Pausenhof und in der Kernfamilie: Lehrer schlagen Schüler, Erzieher ohrfeigen Kinder, Angehörige malträtieren Pflegebedürftige. Über solche Attacken gegen Schützlinge redet allerdings kaum jemand. „Aber sie finden statt. Und sie werden nicht weniger”, sagt der Bonner Psychiater Rolf Dieter Hirsch.
„Ich konnte nicht mehr anders.” Solche Sätze sagen gestresste Eltern, wenn passiert ist, was nicht passieren darf. Wenn sie ihr Kind geohrfeigt haben, wenn ihnen „die Hand ausgerutscht ist”. Aber wer gibt zu, dass er seine alte Mutter geschlagen hat? „Das ist ein Sakrileg, darüber redet kaum einer freiwillig.” Rolf Dieter Hirsch, Leiter der Gerontopsychiatrie an den Rheinischen Kliniken in Bonn, kennt dennoch viele Fälle. Der Bonner Arzt leitet den Verein „Handeln statt Misshandeln”, der sich um Opfer und Täter in der häuslichen Pflege kümmert. Fesseln, schlagen, schütteln: „Die größten Grausamkeiten passieren daheim.”
Schläge sind längst nicht aus dem Alltag verschwunden
Dass in vielen Familien immer noch Kinder geschlagen werden, dass Männer ihre Frauen prügeln – das ist kein Geheimnis. Prügelnde Lehrer, ausrastende Erzieher und Gewalt am Pflegebett – das klingt dagegen für viele wie Erinnerungen an die 50er-Jahre. Doch obwohl Körperstrafen hier zu Lande verboten sind, Gewalt geächtet und das elterliche Züchtigungsrecht im Jahr 2000 ausdrücklich abgeschafft wurde, zeigen Untersuchungen: Schläge sind längst nicht aus dem Alltag verschwunden.
In der jüngsten Gewalt-Studie des Kriminologischen Forschungsinstituts Hannover sollten rund 43 600 Neunt-klässler angeben, ob sie je von einem Lehrer geschlagen worden seien: 2,5 Prozent antworteten mit Ja – weit über 1000 Kinder. Edgar Schmitz, Psychologe an der TU München, hat 400 Schüler und 100 Lehramtsstudenten zu Gewalterfahrungen in der Schule befragt. Zwölf Prozent der Schüler und 18 Prozent der Studenten hatten mindestens einmal körperliche Gewalt erlebt. Auch in Bremen wurde vor einiger Zeit umfassend nach Gewalt an Schulen gefragt: „Jeder zwanzigste Schüler sah sich glaubhaft körperlichen Grenzverletzungen durch Lehrer ausgesetzt”, heißt es im Bericht für den Senat.
„Da ist mir die Hand ausgerutscht”
In den wenigsten Fällen geht es um Züchtigung. „Körperliche Gewalt entsteht aus Hilflosigkeit, aus Überforderung”, sagt Marianne Demmer, Vizevorsitzende der Lehrergewerkschaft GEW. „Es gibt keinen Lehrer, der nicht wüsste, dass man nicht schlagen darf.”
Auch die 50-jährige Angestellte, die vor kurzem beim Verein „Handeln statt Misshandeln” anrief, wusste das. Sie pflegt ihre 80-jährige demenzkranke Mutter. Weil sie selbst noch berufstätig ist, schließt sie die Mutter manchmal tagsüber in der Wohnung ein. Zum Schutz, denkt sie. Damit die alte Frau nicht hilflos auf die Straße läuft. Abends, wenn sie müde nach Hause kommt, eskaliert die Lage regelmäßig. Die Mutter ist in Rage, die Tochter erschöpft. „Da ist mir die Hand ausgerutscht”, sagt die 50-Jährige am Telefon. Und, wie sehr sie sich jetzt schämt.
Kaum Anlaufstellen für Alte und deren Angehörige
Das Problem: Kaum jemand schlägt heute aus Überzeugung. Die Erzieher, die Lehrer, die Pflegenden – sie sind oft selbst Opfer von Gewalt. Aggressive Jugendliche, wütende alte Menschen. Und zu wenig Hilfe. Beispiel Altenpflege: „Überall gibt es Beratungsstellen für Kinder, Jugendliche und Paare. Aber Anlaufstellen für Alte und ihre Angehörigen gibt es kaum.” Rolf Dieter Hirsch warnt: „Wenn die häusliche Pflege zunimmt, nimmt auch die häusliche Gewalt zu.”
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