Essen. Ein französicher Untersuchungsbericht offenbart Überraschendes: Lubitz hat, kurz vor dem Aufprall, in den programmierten Sturzflug eingreifen wollen.

Der Schnee auf den Bergen nördlich der Cote d’Azur hat sich zurückgezogen. Der Ort Prads-Haute-Bleone wirbt für den Sommer um Touristen. In dem menschenleeren, nahen Geröll-Tal auf 1500 Meter Höhe wird sie nur noch ein Gedenkstein an den Feuerball mahnen, der hier am 24. März um 9.41 Uhr aufflammte: „In Erinnerung an die Opfer“, steht darauf in goldener Schrift auf grauem Grund und in vier Sprachen. Es waren 150 .

Der Co-Pilot Andreas Lubitz (27) hat sich an diesem Märztag auf dem Flug von Barcelona nach Düsseldorf alleine im Cockpit eingeschlossen und den Germanwings-Airbus bewusst in die Bergflanke gerammt, um Suizid zu begehen. Diese erste These aller an den Untersuchungen Beteiligten ist bisher durch nichts zu erschüttern. Auch sind die letzten Opfer identifiziert.

Viele aufkommende Fragen

Aber weiß man inzwischen mehr? Über die Krankengeschichte des Ersten Offiziers? Über ein - unterlassenes – rechtzeitiges Eingreifen in seine Karriere , was die Katastrophe vielleicht hätte verhindern können? Über die letzten Lebensminuten von Lubitz und der 149 anderen Insassen? Die Untersuchungen laufen auf Hochtouren.

Zwischen deutschen und französischen Justizbehörden ist das Ende des Fluges 4U9525 jetzt vorrangig zur Aktensache geworden. Ermittelt wird in Marseille und Düsseldorf. Rechtshilfeersuchen werden in den nächsten Wochen gegenseitig gestellt. Berichte werden ausgetauscht und übersetzt werden, Zeugenaussagen ausgewertet. Auch einige Polizeiakten sind noch nicht da.

Gegen Andreas Lubitz wird nicht ermittelt

In Deutschland werden sich die Staatsanwälte am Ende ein Bild von möglicher rechtlicher Verantwortung derjenigen machen, die mit dem Piloten Lubitz über Jahre disziplinarisch und medizinisch zu tun hatten. Nur gegen den eigentlichen „Täter“ werden sie nicht vorgehen. Gegen Tote wird nicht ermittelt. Christoph Kumpa von der Staatsanwaltschaft in Düsseldorf sagt: „Ich rechne nicht damit, dass wir vor Ende des Jahres den abschließenden Bericht vorlegen“.

Vorgewagt hat sich mittlerweile die französische Unfalluntersuchungsstelle BEA. 29 Seiten stark ist ihr „Zwischenbericht“ . Er ist technisch und sehr passivisch formuliert. Schuldzuweisungen kommen nicht vor. Es heißt nie: „Der Co-Pilot steuerte…“. Es heißt: „Während der Co-Pilot alleine im Cockpit war, veränderte sich die eingestellte Höhe von 38 000 Fuß auf 100 Fuß.“

Doch gerade dieser BEA-Report enthält Überraschungen. Die erste, schon bekannte: Copilot Lubitz hat auf dem Hinflug ganz kurz den tödlichen Gleitflug „getestet“ und für Sekunden die Höhe „100 Fuß“ eingestellt, dies aber schnell wieder korrigiert.

Kleinere Defekte am Flugzeug

Die zweite: Der 24 Jahre alte Airbus wies Defekte auf. Wörtlich: „Während des Unfallfluges funktionierte ein Teil der Ausrüstung nicht“. Zum Beispiel Kabinenlichter . Auch die Logobeleuchtung rechts war ausgefallen. Die „Zündung B für das Starten des rechten Triebwerks funktionierte nicht mehr“. In Barcelona musste sich der Kapitän um die defekte Spülung der vorderen Toilette kümmern. Aber das waren keine gravierenden, zur Flugunfähigkeit führenden Ausfälle. Sie führten nicht zum Absturz.

Sekundengenau schreibt die BEA auf, was die beiden Recorder über 41 Minuten als Geräusche im Cockpit und als technische Reaktionen des Jets aufgezeichnet haben. Das bringt die dritte Überraschung: Lubitz hat, kurz vor dem Aufprall, in den programmierten Sturzflug eingreifen wollen.

Um 9.39 Uhr, 30 Sekunden – der Kapitän will offenbar ins Cockpit zurückkehren und steht vor der verschlossenen Tür - registriert die eine Black Box, der Stimmen-Recorder, „fünfmal Geräusche ähnlich dem starken Schlagen gegen die Cockpittür“. Parallel merkt sich die andere, der eigentliche Flugschreiber, dass es „zwischen 9.39 Uhr, 33 Sekunden und 9.40 Uhr,7 Sekunden Sidestick-Eingaben mit geringer Amplitude auf der Co-Pilot-Seite“ gibt.

Mit diesem Sidestick kann auch der Autopilot ausgeschaltet werden. Der Mensch kann so wieder die Regie über das Flugzeug übernehmen. Will Andreas Lubitz den automatisch eingegebenen Sinkflug abbrechen, den Airbus im letzten Augenblick hochziehen? Hat er Angst vor dem eigenen Tod? Hat er plötzlich Skrupel wegen der 149 anderen, die er nichtsahnend in den Tod fliegen will?

"Sofia" als Mittel gegen erzwungene Sinkflüge

Doch er tut dies nicht entschlossen. Die BEA stellt in einer Fußnote dazu fast resigniert fest: „Der maximale Ausschlag dieser Bewegungen blieb niedriger als notwendig gewesen wäre, den Autopiloten auszuschalten. Daher blieb er eingeschaltet. Diese Handlungen hatten also keinen Einfluss auf den Flugweg“.

Um 9.40 und 41 Sekunden ertönt das akustische Warnsignal „Terrain. Terrain. Pull up. Pull up. (Boden. Hochziehen) Der letzte Satz heißt dann: „Um 09:41:06 Uhr stoppte die Aufzeichnung mit dem Aufschlag im Gelände“.

In der Luftfahrtbranche hat die Debatte begonnen, ob es Mittel gibt, solche Sturz-Flüge technisch von außen zu verhindern. „Es darf keine Denkverbote geben“, sagt der Chef der Deutschen Flugsicherung (DFS), Christoph Scheurle. Sein Hinweis: Die EU hat das von 2006 bis 2009 mit dem Projekt „Sofia“ erprobt – eine Methode, die eigentlich dazu dient, das Kommando über entführte Flugzeuge vom Boden aus zu übernehmen. Sie setzt voraus, dass man diese Möglichkeit gegen Hacker sichern kann.

Aber das ist eine Sache der Zukunft. Wäre „Sofia“ schon jetzt Wirklichkeit gewesen, hätte die Flugsicherung in Marseille durchaus Spielraum zum Handeln gehabt. Laut BEA-Bericht haben die französischen Lotsen den Germanwings-Airbus an diesem 24. März zwischen 9.31 und 9.41 Uhr elf Mal vergeblich gerufen, bevor er am Berg zerschellte. Da sind zehn wertvolle, lange Minuten.