Winnenden. Während Winnenden trauert, werden neue Details des Blutbads bekannt: Die Referendarin, die sich vor ihre Schüler warf, bezahlte mit dem Leben. Die Geisel des Amokläufers rettete sich mit einem Sprung aus dem fahrenden Auto.
Seine Tat, sie hatte Folgen, die für viele an diesem Morgen in Winnenden nicht zu begreifen sind. Zu Hunderten pilgern sie zur Schule, legen dicke rote Rosensträuße ab und schönste Lilien. Sie kommen zu zweit und in Gruppen, sie halten sich an den Händen, nehmen sich tröstend in die Arme. Ihre Tränen fließen mit dem Regen im Duett.
Die Mauer vor der Albertville-Realschule quillt über von Blumen, Kerzen, Briefen voller fassungsloser Liebeserklärungen an jene, die sie verloren haben: „Selly, ich liebe Dich! Du bist mein Leben. Ich werde Dich nie vergessen!” steht in Mädchenschrift neben einem roten, fetten Filzstift-Herz. Da hat offenbar eine ihre beste Freundin verloren.
Eine von vielen. Fast jeder, der sich zur Realschule begibt, betrauert jemanden oder hat selbst in einer der Klassen gesessen. Auge in Auge mit dem Amokläufer.
Vor die Schüler geworfen
Lisa, die Zwölfjährige, kommt mit ihrer Mutter. Auch sie trägt Rosen in der Hand. Ihre Mutter Katja macht sich große Sorgen um sie: „Sie saß gestern im Chemiesaal, erlebte, wie ihre Lehrerin durch einen Streifschuss verletzt wurde. Ich weiß nicht, wie meine Tochter das alles verarbeiten soll.” Auch Lisas Mathematiklehrerin, die junge Referendarin, ist tot. Anfang 20 sei sie gewesen und erst seit zwei, drei Wochen an der Schule. Frau Schüle, so hieß sie, habe sich schützend vor eine Gruppe Schülerinnen geworfen, als Tim K. durch die geschlossene Tür schoss.
Lisa will nun nicht mehr in diese Schule, hat Angst, auf einem der Stühle sitzen zu müssen, auf denen vorher einer der nun Toten saß. Sie hat Angst, in einen Klassenraum gehen zu müssen, in dem Blut auf den Boden floss. Vielleicht gehen sie gleich zu den Schulpsychologen, die ihre Beratung in einer nahen Turnhalle anbieten.
Drei Kilometer von Winnenden entfernt liegt Weiler zum Stein, auf einem Hügel zwischen Weinbergen gelegen. Der 5000 Einwohner kleine Ort, in dem Tim aufwuchs, bei seinen Eltern, mit seiner drei Jahre jüngeren Schwester Jasmin. Das Haus der Familie ist frisch weiß getüncht, sehr gepflegt, macht geradezu einen sterilen Eindruck. Der Vater, ein mittelständischer Unternehmer, der Verpackungen herstellt, hat Tim des öfteren zu seinem Sportschützen-Verein mitgenommen. Kein Wunder also, dass Tim so präzise mit Waffen umgehen kann, dass er viele seine Opfer direkt in den Kopf schoss.
Still und verschlossen
Tim, so berichtet der Stuttgarter Staatsanwalt Siegfried Mahler, sei ein stiller, verschlossener Junge gewesen und habe einen mittelmäßigen Realschulabschluss hingelegt. Seitdem bereitete er sich in einem Berufskolleg auf eine kaufmännische Ausbildung vor. Tim liebte Softairwaffen, machte seit drei Jahren Kraftsport. Auf seinem Computer fanden die Ermittler Pornos wie auch Gewaltspiele.
Der 17-Jährige war depressiv, hatte sich deswegen im Jahr 2008 mehrfach stationär behandeln lassen, eine geplante ambulante Therapie ging er jedoch nicht an. Stattdessen lief er nun Amok. Mit einer Brutalität, die schockiert. Der Fahrer etwa, dessen VW Sharan er für die Flucht karperte, berichtete der Polizei später, er habe die ganze Fahrt über Todesängste ausgestanden. Permanent die Pistole am Kopf, habe er Tim noch davon abgehalten, aus dem Auto heraus auf andere Autofahrer zu schießen. Als er einen Streifenwagen sah, habe er dies als letzte Überlebenschance gesehen, habe Gas gegeben, den Wagen auf einen matschigen Acker gelenkt und den Sprung aus dem noch fahrenden Auto gewagt.
Er wollte noch mehr Menschen töten
Doch Tims Amoklauf geht weiter. Weil man ihm keinen Wagen geben will, erschießt er anschließend skrupellos einen Autoverkäufer und dessen Kunden. Am Donnerstag taucht ein Handy-Video auf, dass zeigt, wie sich Tim später, nach einem Schusswechsel mit Polizisten, auf den Hof des Autohauses zurückzieht und sich selbst tötet. 112 Schüsse hatte er abgeben, 109 Schuss Munition trug er noch bei sich.
Tim Kretschmer, da ist sich die Polizei sicher, hatte den Willen, noch viel mehr Menschen zu töten. Dass nicht mehr Schüler und Lehrer starben, schreibt die Polizei ihrer neuen Taktik zu: Man wartete nicht erst, bis Spezialeinsatzkommandos vor Ort eintrafen, man schickte Zivilstreifen in die Schule. Ein gefährlicher Job für sie, zugegeben, doch in diesem Fall rettete er vielen das Leben.
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