Frankfurt/Main. Der Runde Tisch, der die Misshandlung von hunderttausenden Heimkindern in den fünfziger und sechziger Jahren aufarbeiten soll, trifft sich am Dienstag zu seiner ersten Sitzung. Zustandegekommen ist er auf Initiative Betroffener, die auf eine Anerkennung ihres Leidens drängen.
Wenn Werner Molter von seiner Jugend erzählt, schnürt es ihm auch nach Jahrzehnten die Kehle zu. Zu schrecklich sind die Erinnerungen an die Zeit im Kinderheim, das dem Jugendlichen alles andere als ein Heim war. Von einem «Gefängnis für Kinder» spricht der 60 Jahre alte Berliner. Wie er wurden in der jungen Bundesrepublik hunderttausende Heimkinder ausgebeutet, gequält und missbraucht. Von diesem Dienstag an versucht ein Runder Tisch im Bundestag, Licht in ein dunkles Kapitel der Nachkriegsgeschichte zu bringen. Ob und in welcher Höhe die Heimkinder auf eine Entschädigung hoffen dürfen und wer dafür geradestehen müsste, ist unklar.
Bei der Großmutter abgeholt
Genau erinnert sich Molter noch an jenen Apriltag 1962, als sich sein Leben für immer veränderte. Zwei Mitarbeiter des Jugendamtes tauchten plötzlich im Haus seiner Großmutter auf, die den Zwölfjährigen liebevoll großgezogen hatte. Sie ließen ihm ein paar Minuten, um ein paar Sachen zu packen, dann verfrachteten sie ihn in ein Kinderheim in Hannover.
«Freiwillige Erziehungshilfe» nannten Bürokraten solche Einweisungen, zu denen sie überforderte Eltern wie Molters Mutter drängten und die sie mit «sittlicher Verwahrlosung» begründeten. Meist reichten schon ein paar Teenager-Flausen. «Ich bin ab und zu mal nicht zur Schule gegangen und hab mich für Mädchen interessiert», erzählt Molter.
Zehn Treffen angesetzt
Antje Vollmer (Grüne) weiß um das Martyrium, das Heimkinder in den fünfziger und sechziger Jahren erlitten. «Das waren ganz schlimme Erfahrungen für Jugendliche, die völlig ausgeliefert waren», sagt die ehemalige Bundestagsvizepräsidentin, unter deren Vorsitz das Unrecht aufgearbeitet werden soll, der Nachrichtenagentur AFP.
Es ist eine schwierige Aufgabe für den Runden Tisch, an dem unter anderen Opfer, Heimträger, Vertreter der Kirchen, Bund, Länder und Wissenschaftler zusammenkommen. Der Petitionsausschuss des Bundestages hatte die Einsetzung des Gremiums nach vielen Eingaben von Heimkindern beschlossen. Zehn Sitzungen sind dieses und nächstes Jahr geplant.
Boden mit der Zahnbürste geputzt
Sicher ist, dass das Thema sehr sensibel ist. So hatte die Bundesregierung laut dem Verein ehemaliger Heimkinder (VEH) zunächst den Deutschen Verein für öffentliche und private Fürsorge mit der Ausrichtung des Runden Tisches betrauen wollen. Das jedoch lehnten die ehemaligen Heimkinder ab, weil dem Verein auch kirchliche Organisationen angehören, die in der Nachkriegszeit Kinderheime betrieben hatten. Nun soll die Arbeitsgemeinschaft der Kinder- und Jugendhilfe die Runde mitorganisieren und zugleich als Anlaufstelle für Betroffene dienen.
Molter, der sich im VEH als Schriftführer engagiert, möchte, dass die Leute erfahren, was er durchmachen musste. Den militärischen Drill und die Prügel. Die sexuellen Übergriffe nachts unter der Decke. Dass er den den Boden des Schlafsaals mit einer Zahnbürste putzen musste, wenn er nicht spurte. Noch heute leidet der Zimmermann im Ruhestand unter Albträumen. «Jahrelang wurde mir eingebläut: Du bist dumm, du bist faul, du bist ein schlechter Mensch.» Nur seine Familie gibt ihm Kraft.
Über mögliche Entschädigungen wird später entschieden
Vollmer will den Runden Tisch keinesfalls als «Tribunal» verstanden wissen. In gewisser Weise sei die gesamt Gesellschaft mitverantwortlich gewesen, sagt sie. «Es gab eine erschreckende Bereitschaft, Kinder und Jugendliche, die nur ein bisschen gegen Normen verstießen, auszuschließen und einzuschließen.»
Die Grünen-Politikerin hält es auch für falsch, das Thema Entschädigung als erstes auf die Tagesordnung zu setzen. Zunächst müsse geschaut werden, was damals geschah. Dann, in einer zweiten Phase, «sollen alle ihren Teil beitragen, dass man für die Betroffenen eine Lösung erarbeitet». Der Auftrag des Petitionsausschusses habe Entschädigungen nicht ausgeschlossen, aber auch nichts garantiert.
Natürlich seien Entschädigungen ein Thema, sagt Molter. Schließlich habe er im Heim hart arbeiten müssen - und nicht einmal Rentenansprüche geltend machen können. Doch das sei nicht alles. «Wichtiger ist, dass Staat und Kirche die Menschenrechtsverletzungen anerkennen.» (AFP)