Straßburg. . Kruzifixe in Klassenzimmern verstoßen doch nicht gegen Menschenrechte. Zu diesem letztinstanzlichen Urteil kam jetzt die große Kammer des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte in Straßburg.
In Europas Schulen dürfen auch weiterhin Kruzifixe hängen. Das hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) am Freitag in einem mit Spannung erwarteten Urteil entschieden. Er widersprach damit einem früheren Urteil.
Das Straßburger Gericht wies in letzter Instanz die Klage der Italienerin Soile Lautsi zurück und revidierte damit seinen Spruch vom November 2009, gegen den die italienische Regierung in Revision gegangen war. Das Urteil von gestern ist für die 47 Mitgliedsstaaten des Europarats bindend.
Schulkruzifixe verletzen nach Ansicht der Großen Kammer des EGMR nicht die Grundrechte auf Religionsfreiheit und freie Kindererziehung. Beide Rechte schützt die Europäische Menschenrechtskonvention, über deren Einhaltung der EGMR wacht. Die 17 Richter sahen es nicht als erwiesen an, dass ein an der Wand eines Klassenraums angebrachtes Kruzifix einen Einfluss auf die Schüler habe – obwohl es sich dabei in erster Linie um ein religiöses Symbol handele. Von einem „staatlichen Indoktrinierungsprozess“ könne aber nicht gesprochen werden. Außerdem sei Lautsis Recht als Mutter, „ihre Kinder aufzuklären, sie zu beraten und sie im Sinne ihrer eigenen weltanschaulichen Überzeugungen anzuleiten“, durch die Kruzifixe nicht beschnitten worden.
Zollitsch: „Tief in der italienischen Kultur verwurzelt“
Damit zieht der EGMR einen Schlussstrich unter einen jahrelangen juristischen Streit, der besonders in der italienischen Öffentlichkeit für großes Aufsehen gesorgt hatte. Soile Lautsi war in der Heimat als „atheistische Aktivistin“ bezeichnet und eigenen Aussagen zufolge massiv bedroht worden.
Kirchenvertreter begrüßten die Entscheidung aus Straßburg. „Das Gericht trägt damit dem überwiegenden Willen der italienischen Bevölkerung Rechnung“, sagte der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Erzbischof Robert Zollitsch. Das Kruzifix sei tief in der italienischen Kultur verwurzelt. „Das Anbringen eines Kreuzes in einem Klassenzimmer wie auch allgemein religiöser Symbole im öffentlichen Raum ist der unaufdringliche Ausdruck des staatlichen Bekenntnisses zu seiner Identität, zu seinen Wurzeln und zu seinen Werten.“
Deutsches Gericht urteilt anders
Deutsche Richter haben in der Kruzifix-Debatte anders entschieden. In einem Beschluss (AZ: 1 BvR 1087/91) vom 16. Mai 1995 erklärte das Bundesverfassungsgericht die Anbringung eines Kreuzes im Klassenraum einer Pflichtschule, die keine Bekenntnisschule ist, als verfassungswidrig. Damit verstoße die Schule gegen die Religionsfreiheit nach Artikel 4 des Grundgesetzes. Jedoch ließen die Karlsruher Richter ein Hintertürchen offen: Die Kreuze müssen nur dann entfernt werden, wenn jemand gerichtlich darauf besteht.