Lünen/Dortmund. . Eine junge Familie: Vater (29), Mutter (26), Kind (4) – alle vergiftet, mit PCB. Das vielleicht bedrückendste Schicksal des Envio-Skandals spitzt sich zu. Der kleine Sohn hat Probleme mit der Schilddrüse. Und die Mutter ist schwanger. Ein Leben zwischen Hoffnung und Horror.

Das Gift spüren sie nicht. „Noch nicht.“ Die Angst umso mehr. Martin (29), Kerstin (26) und Nico (4) Schneider* haben PCB im Körper. Der Vater hat es mit nach Hause gebracht – ahnungslos. Es steckte in seiner Arbeitskleidung. Der Mann war Schweißer bei Envio, der Skandalfirma, die vielen die Gesundheit raubte. Jetzt erwartet Kerstin Schneider ein Baby. Eine junge Familie zwischen Hoffnung und Horror.

Der Tag, der drei Leben verändert, ist der 26. Juni 2010. Da erfährt Martin Schneider, dass sein Körper verseucht ist. Ein PCB-Wert liegt 300-fach über der Norm. Kurz darauf bestätigen Untersuchungen die schlimmsten Befürchtungen: Auch Mutter und Sohn haben das Gift im Blut, das Krebs begünstigt. Erst lähmt die Diagnose die Familie. Dann nimmt sie den Kampf auf. Und sie ist nicht allein.

Das Gift steckt in der Arbeitskleidung

Als DerWesten Anfang August 2010 über das bedrückende Familienschicksal berichtet, folgt eine Welle der Hilfsbereitschaft. Zu denen, die Anteil nehmen, zählt Hans-Dieter Kahleyß, Chef der Dortmunder Gasrußwerke. Spontan bietet er dem Familienvater einen Job an. „Endlich saubere Arbeit“, sagt Martin Schneider fast demütig. „Endlich Schutzkleidung.“ Bei Envio ist er im privaten Blaumann durch PCB-Öl gewatet, hat lecke Leitungen geflickt, aus denen das Gift herauslief. „Halb so schlimm“, haben die Bosse gesagt. „Da musst du durch.“ Die klebrige Montur hat er mit nach Hause gebracht, zum Waschen. An giftige Fasern hat niemand gedacht.

Hund Jessie unter Mundschutz geschoren

Drei Monate später zieht Familie Schneider ins Hotel. Messungen belegen: Ihre Wohnung ist unbewohnbar. Überall PCB. Das Teufelszeug steckt im Sofa und in den Betten, in Teppichen, Wäsche und Kleidern. Das traute Heim – eine toxische Zeitbombe. Die Berufsgenossenschaft schickt eine Spezialfirma. Gift-Einsatz in vier Wänden: Männer in Ganzkörperschutzanzügen pflügen die 73 Quadratmeter um. Demontieren, Wischen, Saugen, Desinfizieren, Entsorgen – kein Legostein bleibt auf dem anderen. Drei Tage dauert die Entgiftung.

Gift-Einsatz in vier Wänden: Unter Ganzkörperschutz entkernen Mitarbeiter einer Spezialfirma die verseuchte Wohnung der jungen Familie. Foto: Klaus Pollkläsener
Gift-Einsatz in vier Wänden: Unter Ganzkörperschutz entkernen Mitarbeiter einer Spezialfirma die verseuchte Wohnung der jungen Familie. Foto: Klaus Pollkläsener © Iris-MEDIEN

Als die Schneiders wieder einziehen, ist nichts mehr wie vorher. Kein Kinderbild hängt mehr an der Wand. Die Stühle stehen umgedreht auf dem Tisch. Badezimmergarnitur, Schlafzimmerteppich – im Sondermüll. Eine kahle Wohnung. Fast so kahl wie Jessie. Der Golden Retriever ist geschoren worden. Die Frau im Hundesalon hat Mundschutz und Handschuhe getragen. Als Nico seinen treuen Spielkameraden sieht, erkennt er ihn nicht wieder. „Ist das Jessie?“ Erschrocken klammert sich der Vierjährige an seinen Papa. Das entkernte, sterile Heim öffnet der Familie die Augen. „Jahrelang haben wir im Gift gelebt, drin geschlafen und nichts geahnt. Erst jetzt ist das Zeug raus.“

Aus der Wohnung, aber nicht aus den Körpern. Der kleine Nico bereitet Sorgen. Prof. Dr. Thomas Kraus, PCB-Experte aus dem Aachener Uni-Klinikum, findet Antikörper gegen Schilddrüsengewebe im Blut des Dreijährigen. „Das kann zu einer Unterfunktion führen“, weiß Kraus. Beunruhigend, denn die Schilddrüse gilt als „eines der ersten Organe, das sich bei PCB-Überbelastung meldet“. Leber, Niere, Nerven- und Immunsystem können folgen. „Veränderungen sind be­kannt“, sagt Kraus – und meint: Die Krebsgefahr steigt. Nico wird mit Ärzten groß werden. Alle sechs Monate muss der Junge zur Untersuchung. Der letzte Befund lässt hoffen.

Aus Wunschträumen werden Alpträume

Doch die Psycho-Achterbahn rast ungebremst weiter. Die Dioxin-Ergebnisse stehen noch aus, der Termin für die geplante Sperma-Untersuchung des Vaters ist noch nicht vereinbart, da erfährt Kerstin Schneider: Sie ist schwanger. „Dritter Monat. Herzlichen Glückwunsch!“, sagt ihr Arzt. Der jungen Frau ist nicht nach feiern. Angst schießt in ihr hoch. „Kann ich das Baby bekommen? Kann es Missbildungen haben?“ Quälende Fragen. Lange hat sie vom zweiten Kind geträumt. Jetzt durchlebt sie Alpträume. Und die drohen wahr zu werden. Eine Ultraschalluntersuchung löst Panik aus: Verdacht auf Down Syndrom. Kerstin Schneider ist am Boden zerstört. „Ich glaube, es bewegt sich nicht mehr. Ich drehe durch“, sagt sie ihrem Mann.

Giftschleuder Envio

Der stillgelegte Entsorger Envio verantwortet den bundesweit größten PCB-Skandal der letzten Jahrzehnte. Durch unsachgemäßen Umgang mit dem Umweltgift wurden mehr als 300 Menschen verseucht. In der Spitze wurden Belastungen gemessen wie nie zuvor in Deutschland.

Anderthalb nervenzerfressende Wochen später bringt eine Fruchtwasseruntersuchung die Entwarnung. „Alles in Ordnung“, heißt es nach dem Termin in der Pränatalmedizin. Neue Hoffnung. Eine kleine Entspannung. Bis zum nächsten Tiefschlag? Martin Schneider rechnet fast schon damit. „Nach Envio denkst du: Schlimmer kann es nicht mehr kommen – und dann das.“

Das PCB und die Angst – Begleiter fürs Leben

„Was morgen wird, weiß niemand“, sagt seine Frau. Sie wird das Kind lieben, so oder so. Es wird ähnliche PCB-Werte haben wie die Mutter, glauben Mediziner. Die Schneiders aus Lünen – sie müssen mit diesem Gift leben, das sich kaum abbaut im Körper. Es steckt in ihnen, so tief wie die Angst. Wie lange sie gesund bleiben, die Frage treibt sie jeden Tag um.

„Alles wird gut, nicht wahr, Nico“, sagt Martin Schneider, als sein Sohn um die Ecke schielt. Der Kleine ist außer Hörweite, da schiebt er hinterher: „Aber viel älter als 60 werden wir wohl nicht…“