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Rund um das marode Endlager Asse steigt die Zahl der Fälle von Leukämie stark an. Ein seit Jahrzehnten gehegter Verdacht erhält dadurch neue Nahrung. Doch Gewissheit über die Ursachen der Krebserkrankungen gibt es bis heute nicht.
Ist der strahlende Abfall im maroden Atommülllager Asse für eine erhöhte Zahl von Krebserkrankungen verantwortlich? Diese Frage stellen sich derzeit die Bürger im Landkreis Wolfenbüttel. Zwölf Männer und sechs Frauen sind zwischen 2002 und 2009 in der Gemeinde Assen an Leukämie erkrankt. Normal wäre ein Fall pro Jahr.
18 Fälle von Blutkrebs – statistisch hätten es in diesem Zeitraum nur 5,2 sein dürfen, ergaben Auswertungen des Epidemiologischen Krebsregisters des Landes Niedersachsen. Vor allem Männer im Umfeld des Atomlagers sind betroffen, bei ihnen ist die Erkrankungshäufigkeit für Leukämie doppelt so hoch wie üblich, gab das niedersächsische Umweltministerium bekannt.
Schilddrüsenkrebs bei Frauen
Bei Frauen habe sich die Erkrankungsrate für Schilddrüsenkrebs verdreifacht. „Eine Ursachen dafür kann bisher nicht festgestellt werden“, so das Ministerium. Es sei unklar, welchen Einfluss etwa das Lebensalter oder die Berufstätigkeit der Betroffenen hätten. Die Landesregierung will nun prüfen, ob tatsächlich radioaktive Strahlung der Grund für den massiven Anstieg der Krebserkrankungen sein könne.
Das Bundesamt für Strahlenschutz (BfS), Betreiber der Asse, fordert eine konsequente Aufklärung der Erkrankungen, stellt jedoch zugleich fest, dass Messungen keine erhöhte Strahlenbelastung rund um das Atomlager ergeben hätten. Zum jetzigen Zeitpunkt gehe „von der Asse weder für die Beschäftigten, noch für die Bevölkerung eine Gesundheitsgefährdung aus“.
Asse ist kein Einzelfall
Doch die Asse ist kein Einzelfall. Rund um das Atomkraftwerk Krümmel in der Elbmarsch wird mit 19 erkrankten Kindern die weltweit höchste Leukämierate in dieser Altersgruppe beklagt. Seit Jahren wird hier nach den Ursachen gesucht, bislang ohne wissenschaftlich tragfähiges Ergebnis.
Die schwarz-gelbe Landesregierung hat nach zahlreichen ergebnislosen Untersuchungen jetzt beschlossen, keine weiteren Bodenproben mehr zu nehmen. „Damit ist die Ursachenforschung bezüglich der Leukämie faktisch beendet“, kritisiert die grüne Opposition.
Alter Verdacht
Die Fälle um die Asse und an der Elbe geben einem seit Jahrzehnten gehegten Verdacht neue Nahrung. Bereits seit den 80er-Jahren gibt es Diskussionen um erhöhte Krebsraten in der Umgebung von Atomkraftwerken. 1987 und 1989 berichteten zum Beispiel britische Studien von einem signifikant häufigeren Auftreten von Leukämie bei Kindern im näheren Umkreis kerntechnischer Anlagen.
In Deutschland stellte eine Studie des Deutschen Kinderkrebsregisters für den Zeitraum 1980 bis 1990 fest, dass Kinder unter fünf Jahren in einem Fünf-Kilometer-Radius um Atomanlagen häufiger an Blutkrebs erkranken. Auch die bislang umfangreichste Studie zu „Kinderkrebs in der Umgebung von Kraftwerken“ (KiKK-Studie) im Auftrag des BfS kam 2007 zu einem klaren Ergebnis: „Das Risiko für Kinder, an Leukämie zu erkranken nimmt zu, je näher der Wohnort an einem Kernkraftwerksstandort liegt.“
Warum dies so ist, ließe sich aber nicht erhärten, so die Studie. Die Strahlenbelastung sei viel zu gering. Auch Prof. Wolfgang-Ulrich Müller, Strahlenbiologe am Uniklinikum Essen, sagt: „Die Fälle sind über die auftretenden Strahlendosen nicht erklärbar.“ Es müssten noch andere Krebs auslösende Faktoren beachtet werden.
Ganz anders sieht das die atomkritische Ärzteorganisation IPPNW. Die neuen Fälle seien „ein weiterer Beleg für den ursächlichen Zusammenhang von ionisierender Strahlung und einem erhöhten Krebsrisiko“. Und auch der Münchener Strahlenbiologe Prof. Edmund Lengfelder, seit Jahren mit den Fällen rund um Krümmel befasst, ist überzeugt, dass Atomanlagen für Krebserkrankungen verantwortlich sind: „Das Knochenmark ist das strahlungsempfindlichste Organ des Menschen. Und dort entsteht Leukämie.“