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Wer richtige Verbrecher sehen will, vergeudet an einem Jugendgericht viel Zeit. Wer aber sind sie, die Angeklagten zwischen 14 und 21? Zwei Prozesstage lang hat DerWesten den Alltag an einem Jugendgericht verfolgt.

Wer richtige Verbrecher sehen will, vergeudet an einem Jugendgericht viel Zeit. Das mag Beobachter der öffentlichen Diskussion um die Jugendkriminalität verwundern. Noch im Sommer hatte die Berliner Jugendrichterin Kirsten Heisig in ihrem Buch „Das Ende der Geduld“ harte Konsequenzen für jugendliche Gewalttäter gefordert. Wer aber sind sie, die Angeklagten zwischen 14 und 21? Zwei Prozesstage lang hat DerWesten den Alltag an einem Jugendgericht verfolgt.

Ein gutes Image besaß die Jugend noch nie. „Die Schüler achten Lehrer und Erzieher gering“, schrieb der griechische Philosoph Platon (427 bis 347 vor Christus). Oder Aristoteles (384 bis 322 vor Christus): „Unsere Jugend ist un­erträglich, unverantwortlich und entsetzlich anzusehen.“ Auch die Er­wachsenen im Jahr 2000 vor Christus stellten eine ganze Generation unter Generalverdacht, wie eine Keilschrift aus Mesopotamien be­legt: „Unsere Ju­gend ist he­runtergekommen und zuchtlos. Die jungen Leute hören nicht mehr auf ihre Eltern. Das Ende der Welt ist nahe.“

Solche Endzeitstimmung verspürt die Essener Jugendrichterin Melanie Krauß nicht. Zwar bescheinigt sie ihren An­geklagten schon mal „asoziales, niederträchtiges Verhalten“, aber damit will sie die pubertierende Schar der Ge­setzesbrecher aufrütteln, nicht beleidigen. Auch sie hat Fälle, bei denen die brutale Gewalt nicht enden wollte. Aber die Masse sieht anders aus.

Noch einmal eine
Chance bieten

Gefährliche Körperverletzung ist am ersten Sitzungstag gleich zweimal angeklagt. Die 35-Jährige tritt als Einzelrichterin auf. Es wird um kleine Fische gehen. Zwei „Girlie-Gangs“ sitzen vor ihr. 15, 16-Jährige, die sich über ein anderes Mädchen aufgeregt haben, weil es sie am Telefon als „Hurentochter“ beleidigt hat. Spontan rotteten sich diese auf der Anklagebank ganz lieb wirkenden Teenies zusammen, lauerten dem Mädchen auf, schlugen und traten zu. Größere Verletzungen sind die Ausnahme. „Zickenterror“, sagt die Vertreterin der Jugendgerichtshilfe, die das Gericht berät und den Hintergrund der Angeklagten er­forscht hat. Aber in die Statistik gehen auch diese Delikte als „gefährliche Körperverletzung“ ein und belegen die dramatisch steigende Gewaltbereitschaft der Jugend.

Das Ende der Geduld? Richterin Krauß zeigt viel Geduld. Wie bei eigenen Kindern steht beim Jugendstrafrecht der Erziehungsgedanke im Vordergrund. Noch einmal eine Chance bieten. Erkennen, ob da ein hartgesottener künftiger Berufsverbrecher sitzt oder doch nur ein jugendlicher Fehltritt. Eine Verwarnung gibt es für die Mädchen. Und Auflagen: 50, 100 Stunden sozialer Arbeit. Vielleicht mal ein Anti-Gewalt-Training. In einem Fall nimmt die 15 Jahre alte Angeklagte schon an einem solchen Training teil. Übrigens zusammen mit ihrem gleichaltrigen Opfer, das in einem anderen Fall verurteilt wurde. Täter und Opfer – vor dem Jugendgericht wechseln diese Rollen durchaus.

Vier Tage später sitzt Krauß mit Schöffen im Saal. Viel heftiger sind die Taten nicht. Die beiden Schöffen mit ihrem „gesunden Menschenverstand“, so will es das Gesetz, könnten die Be­rufsrichterin überstimmen und harte Urteile durchsetzen. Doch die Tendenz bleibt gleich: Geduld, erzieherische Nachsicht.

Der 20-Jährige, der seine Freundin in anderthalb Jahren mehrfach schlug? Als im Prozess bekannt wird, dass die beiden noch kurz vor dem Prozess gemeinsam im Internet chatteten („Schlaf süß“), kippt die Betrachtung dieser Beziehung. „Warum machst du nicht Schluss mit ihm?“, fragt Staatsanwalt Ralf Schmidtmann die 18-Jährige. Offenbar provozierte sie ihren Freund auch: „Du wolltest mich doch schlagen.“ Er wird zu 100 Stunden Sozialarbeit verdonnert und zum Anti-Gewalttraining. „Wir wollen dich auf den richtigen Weg bringen“, sagt Melanie Krauß, „das wird das Gefängnis nicht schaffen.“ Als sie seine zerrüttete Kindheit, sein Leben in Heimen strafmildernd anspricht, schaltet er sich ein und fordert Respekt für seinen Lebensweg: „Das soll man nicht dramatisieren.“

Vermummt
und bewaffnet

Repräsentativ sind die Sitzungstage nicht. Kein Ausländer ist unter den Angeklagten, kein Gewaltexzess. Deshalb ein Besuch bei Jugendrichterin Sabine Schriewer, vor der ein „Mohamed“ wegen schweren Raubes sitzt. Vermummt und mit einer Gaspistole bewaffnet haben ein Komplize und er einen Schlecker-Markt überfallen. Zwei Jahre Jugendstrafe mit Bewährung. Ihn rettet, dass er in der U-Haft artig bleibt, zur Schule geht, von den Lehrern und der Gefängnisleitung wegen seines Verhaltens gelobt wird. Vorher, in Freiheit, hatte er Schule und Lehrstellen abgebrochen.

„Das Urteil ist wie ein Sechser im Lotto für dich“, sagt Richterin Schriewer und knüpft mit ihren Schöffen ein engmaschiges Netz von Auflagen für den Angeklagten, um einem Rückfall vorzubeugen. Das Prinzip Hoffnung.

Die Eltern von „Mohamed“ sitzen dabei. „Rechtschaffene Leute“, sagt Richterin Schriewer. Bei einem 15 Jahre alten Gymnasiasten, der sich wegen Ladendiebstahls vor Melanie Krauß verantworten muss, sitzen sie auch hinten im Saal. Sein Verfahren wird eingestellt, weil er sich bei Saturn früh genug von seinen Komplizen entfernt hatte. Sie warnt ihn trotzdem, redet ihm ins Gewissen: „Du bist Gymnasiast, beide Eltern sitzen hinten. Das ist selten bei uns.“ Ein kleiner Appell folgt: „Du versprichst mir, dass wir uns hier nicht wiedersehen.“