Stuttgart/Berlin. .

Die Protestgruppe ruft nun zu friedlicher Demonstration gegen „Stuttgart 21“ auf. Am Donnerstag hat es über hundert Verletzte - darunter auch Kinder - gegeben. Grüne forden Rücktritt von Baden-Württembergs Innenminister Rech.

Die Gegner des umstrittenen Bahnprojekts „Stuttgart 21“ haben nach dem massiven Polizeieinsatz am Donnerstag vor der für Freitagabend geplanten nächsten Großdemonstration zu friedlichen Protesten aufgerufen. „Wir rufen auf jeden Fall dazu auf, dass es gewaltfrei bleibt“, sagte der Sprecher des Aktionsbündnisses gegen „Stuttgart 21“, Axel Wieland, am Freitag der Nachrichtenagentur AFP. Sollte die Polizei dann erneut Wasserwerfer oder Reizgas einsetzen, würden die Bilder für die Demonstranten sprechen. Wieland erwartet „viele zehntausend“ Menschen zu der erneuten Demonstration.

Die Deutsche Polizeigewerkschaft (DPolG) hat Vorwürfe zurückgewiesen, Polizisten seien unangemessen gegen Gegner des Bahnprojektes „Stuttgart 21“ vorgegangen. Gewerkschaftschef Rainer Wendt sagte am Freitag dem Nachrichtensender n-tv, an diesem Einsatz sei „nichts, aber auch gar nichts auszusetzen“. „Angemessen und vernünftig, aber eben auch energisch hat die Polizei hier ihren Auftrag erfüllt“, betonte Wendt.

Trotz der Abholzung der ersten Bäume für „Stuttgart 21“ im Schlossgarten wollen die Gegner ihren Protest gegen das Milliardenprojekt fortsetzen. Der Sprecher der Kritikerorganisation „Parkschützer“, Matthias von Herrmann, sagte am Freitag auf dapd-Anfrage, dass „Stuttgart 21“ durch die Fällung von 25 Bäumen nicht sinnvoller geworden sei. Er rechne damit, dass der Protest mindestens bis zur Landtagswahl am 27. März 2011 weiterlaufe. Eine Prognose über den Verlauf wagte er nicht. „Vor zwei bis drei Monaten hätte ich nicht geglaubt, dass es so einen Massenprotest gibt.“

Cem Özdemir kritisierte den Einsatz dagegen als „skandalös“

Die Eskalation der Proteste gegen das Bahnprojekt Stuttgart 21 beschäftigt die Bundespolitik. Baden-Württembergs Verkehrsministerin Tanja Gönner (CDU) verteidigte den Polizeieinsatz vom Donnerstag. „Wir hätten gerne eine Baustelle eingerichtet ohne Polizeieinsatz“, sagte Gönner. Der Innenminister des Landes, Heribert Rech (CDU), sagte, die Einsatzkräfte seien von der Aggressivität der Demonstranten entsetzt gewesen. Der Grünen-Vorsitzende Cem Özdemir kritisierte den Einsatz dagegen als „skandalös“.

Es sei immer klar gewesen, dass kein Baustopp eingeleitet werde, sagte Gönner. Es sei unverhältnismäßig, dass Baustellen für Zukunftsprojekte in einem solchen Umfang abgesichert werden müssten. Bei den Protesten der „Stuttgart 21“-Gegner sei die Grenze der Friedlichkeit überschritten worden, sagte Gönner. Sie bedauere, dass beim Polizeieinsatz auch Kinder verletzt wurden. Es könne aber nicht sein, „dass Kinder in solch einer Demonstration bewusst nach vorne geschoben werden“. Zudem hätten Schüler Polizeiwagen besetzt. „Ich bin mir nicht sicher, ob man das als friedlich bezeichnen kann“, sagte Gönner. Die Gegner sollten darüber nachdenken, was friedlicher Protest bedeute.

Baden-Württembergs Innenminister Rech verwies auf eine für diesen Freitagmorgen in Stuttgart geplante Pressekonferenz, auf der Polizeipräsident Siegfried Stumpf den Ablauf und den polizeilichen Einsatz darlegen werde. Eine Schülerdemonstration in der Nähe des Schlossparks sei von Aktivisten instrumentalisiert worden. Es habe unmittelbar Widerstandshandlungen gegen die Polizei gegeben, dabei seien Polizeifahrzeuge angegriffen und Reifen zerstochen worden, sagte Rech. Einsatzkräfte aus Baden-Württemberg und anderen Ländern seien „entsetzt“ gewesen „über die Aggressivität, die ihnen da entgegengeschlagen hat“.

Özdemir sagte, die Gewalt sei von der Landesregierung ausgegangen. Rech habe Demonstranten auf „skandalöse Art und Weise zusammenprügeln“ und Polizisten Pfefferspray „auf ältere Damen und Kinder“ sprühen lassen. Die Planungen für Stuttgart 21 basierten auf falschen Informationen, sagte Özdemir. Das Projekt sei der Bahn vonseiten der Politik „aufs Auge gedrückt worden“. Özdemir prognostizierte, dass die veranschlagten rund 7 Milliarden Euro auf 18 Milliarden anwachsen würden.

Grüne scheitern mit Antrag zu „Stuttgart 21“-Debatte im Bundestag

Der Grünen-Innenpolitiker Wolfgang Wieland hat nach Eskalation der Proteste gegen das Bahnprojekt „Stuttgart 21“ schwere Vorwürfe gegen die baden-württembergische Landesregierung erhoben. Nach einer kurzfristig einberufenen Sondersitzung des Innenausschusses am Freitagmorgen in Berlin sagte Wieland, dass es bei dem Einsatz vier verletzte Bundespolizisten gegeben habe, dadurch drei durch Fremdverschulden. Dabei handele es sich um Hämatome, also nicht um schwere Verletzungen. Auch sei eingeräumt worden, dass es eine „Falschinformation“ gewesen sei, dass mit Pflastersteinen geworfen worden sei. „Es handelte sich ganz offenbar um Kastanien.“ Der Grünen-Politiker betonte: „Wenn man das so etwas in die Welt setzt, dann will man anheizen. Dann will man eigenes zu hartes Vorgehen damit rechtfertigen.“ Die Sondersitzung war von der Linken-Fraktion am Donnerstag beantragt worden. Der Innenausschuss soll sich am kommenden Mittwoch in seiner regulären Sitzung erneut damit befassen.

Die Grünen sind derweil mit ihrem Anliegen gescheitert, die gewalttätigen Auseinandersetzungen um das „Stuttgart 21“-Projekt zum Thema im Bundestag zu machen. Der Antrag der Grünen wurde am Freitagmorgen mit den Stimmen der schwarz-gelben Koalition abgelehnt. Notwendig wäre eine Zwei-Drittel-Mehrheit gewesen.

Der Parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Fraktion, Christian Lange, forderte den Rücktritt des baden-württembergischen Innenministers Rech. Außerdem warb er erneut für eine Volksabstimmung in Baden-Württemberg über das umstrittene Projekt. Die Parlamentarische Geschäftsführerin der Linksfraktion, Dagmar Enkelmann, plädierte für einen Baustopp in Stuttgart. Sie betonte, es handle sich nicht um Wahlkampf und fügte hinzu: „Wir müssen heute und hier in einer öffentlichen Debatte über das Thema reden.“

Über hundert Verletzte

Die zuvor friedlichen Proteste gegen das Bahnprojekt waren am Donnerstag eskaliert. Bei Absperrungen für Baumfällarbeiten im Stuttgarter Schlossgarten setzte die Polizei gegen die Demonstranten Wasserwerfer und Pfefferspray ein, um deren Blockaden zu lösen. Die Demonstranten sprachen von mehreren Hundert Verletzten. Laut Deutschem Roten Kreuz wurden bis am frühen Morgen 114 Demonstranten ambulant behandelt, 16 wurden in Krankenhäuser gebracht. Auch sechs Beamte wurden verletzt. Der Einsatz der Polizei wurde scharf kritisiert.

In der Nacht zum Freitag hatten im Schlosspark unter dem Protest von rund 1.500 Demonstranten die Baumfällarbeiten für das Bahnprojekt begonnen. Rund 25 Bäume wurden bis zum frühen Morgen gefällt. Die Polizei ist weiterhin mit mehreren Hundertschaften vor Ort, um den Park abzuriegeln.

Merkel besorgt über Gewalt in Stuttgart

Bundeskanzlerin Angela Merkel hat sich besorgt über die Gewalt bei den Protesten gegen das Bahn-Projekt Stuttgart 21 gezeigt. „Ich wünsche mir, dass solche Demonstrationen friedlich verlaufen. Das muss immer versucht werden und alles muss vermieden werden, was zu Gewalt führen kann,“ sagte Merkel in einem Interview des SWR laut Vorabbericht vom Freitag. Die Kanzlerin verteidigte das Bahnprojekt erneut als sinnvoll und richtig. Wer mehr Verkehr von der Straße auf die Schiene bringen und die Logistik modernisieren wolle, der müsse auch zu den dafür notwendigen Maßnahmen bereit sein. Bei der Landtagswahl in Baden-Württemberg im März gehe es auch um die Zukunftsfähigkeit des Landes insgesamt, sagte Merkel.

Begleitet von lautstarken Protesten waren im Stuttgarter Schlosspark in der Nacht auf Freitag die ersten Bäume für den Bahnhofsumbau gefällt worden. Etwa 1.000 Polizisten sperrten das Gelände für die Arbeiten ab; rund 1500 Demonstranten begleiteten die Arbeiten mit lauten Pfiffen, aber auch mit Flaschenwürfen auf die Beamten.

Rech bedauert Einsatz von Wasserwerfern

Baden-Württembergs Innenminister Heribert Rech hatte zuvor den massiven Polizeieinsatz bei der vorangegangen Demonstration gerechtfertigt. „Wenn sich Mütter mit den Kindern der Polizei in den Weg stellen, dann müssen sie eben auch mit körperlicher Gewalt weggebracht werden“, sagte er am Donnerstagabend im ZDF. Es sei bedauerlich, dass es zum Einsatz von Wasserwerfern gekommen sei. Die angemeldete Demonstration habe aber nicht den erwarteten Verlauf genommen und sei in Gewalt ausgeartet. Zudem hätten die Demonstranten nicht mit der Polizei sprechen wollen. (dapd/rtr)