Rudelgucken - oder in Falsch-Englisch Public Viewing - ist mittlerweile ein Megatrend. Hunderttausende pilgern bei Spielen zu den öffentlichen Leinwänden. Der Soziologe Hermann Strasser sieht darin religiöse Züge - und einen weiteren Schritt zur Festivalisierung der Alltagskultur. Ein Gastbeitrag.
Wer kennt sie inzwischen nicht, die Live-Übertragungen von Sportveranstaltungen auf Großbildleinwänden an öffentlichen Standorten wie Einkaufszentren, Stadtplätzen und Straßenzügen, aber auch in Schulen, Universitäten und Kirchen? Das „Gruppen- oder Rudel-Gucken“ als neue Form der Eventisierung unserer Lebenswelt wurde aus der Not der begrenzten Zahl von Eintrittskarten zu Spielen der Fußball-WM in Deutschland 2006 von FIFAs Gnaden geboren. Angesichts der massenhaften Verschleuderung von Freikarten an Freunde, Funktionäre und VIPs war zunächst auch die Angst vor Protesten der Fans mit im Spiel.
Der Fußballglaube
Aber es ist auch ein Wandel der Gewohnheiten im Spiel, der sich in gefühlter Zusammengehörigkeit in Szenen, Netzwerken und Events, d.h. in selbstgewählten Gemeinschaften äußert. Denn die Orientierungskraft traditioneller Institutionen wie Familie, Schule, Kirche, politische Partei und soziale Schicht schwindet. Die Sinnsuche geht aber weiter, und zwar in Freundeskreisen, beruflichen Netzwerken und virtuellen Gemeinschaften, auch in Ereignissen wie dem Public Viewing. Weil die so gesponnenen Netzwerke kurzfristiger, daher prekärer sind, müssen wir mehr, nicht weniger kommunizieren, nicht zuletzt über Medien wie TV, Handy, E-mail und Internet und eine Festivalisierung der Alltagskultur.
Bei den Fußball-Fans nehmen diese alternativen Gemeinschaften zeitweise religiöse Züge an: Zum Versammlungsort, dem Stadion, wird prozessiert, Reliquien wie Trikots, Fahnen, Schals und Mützen werden getragen und Gesänge angestimmt. Normen wie das Duzen, Umarmen und Schreien bestimmen die Situation. Rituale des Aberglaubens werden gepflegt, von den Spielern, Trainern und Fans, auch wenn das Spiel mit dem „Glaubt an euch!“ beginnt. Ekstase ist nicht nur erlaubt, sondern sogar erwünscht. Auf dem Weg zum Stadion und durch das Platznehmen in der Kurve werden die Fans auf den späteren Erregungszustand eingestimmt. Diese leidenschaftliche Beziehung zum Fußball zeichnet den Fan im Stadion aus, nicht unbedingt den „public viewer“.
Lokale Verankerung wichtig
Darüber hinaus spielen für den echten Fan die lokale bzw. nationale Verankerung, die Familie und Freunde und damit die Treue eine große Rolle. Der Fan hat den Verein, die Nationalmannschaft zum Gott erkoren, im Stadion sammelt man sich und glaubt an ihn. Eine Aura der Transzendenz tritt ein, wenn die Schweigeminute ausgerufen und im Rhythmus geklatscht wird und die Hymnen und Clublieder gesungen werden. Der Newsletter des Vereins, die Fan-Zine, kommt dann als „Schalke Unser“ auf den Küchentisch, denn auch im Alltag ist das Fan-Sein wichtig. Man engagiert sich für alles, was sich um den Verein dreht. Die wiederkehrenden Phänomene, die Rituale und die Gemeinschaft kommen einer religiösen Erfahrung gleich, wie sie von Religionssoziologen wie Emile Durkheim oder Werner Stark beschrieben wurden.
Nicht nur Fußballturniere werden zunehmend medial überformt und zu einer Liturgie hochstilisiert. So haben 2000 evangelische Kirchengemeinden zum Fußballgottesdienst anlässlich der WM 2010 eingeladen – mit Leinwand versteht sich. In vielen Kirchengemeinden wird jedes Deutschland-Spiel in der Kirche übertragen, auf dass nichts schief gehe, wenn in der Kirche geschaut werde. Umgekehrt mausern sich Stadien zu Ersatzkirchen, wie der Abschied von Nationaltorwart Robert Enke demonstrierte. Dass der Freitod eine private Angelegenheit ist, kümmerte nur wenige. Die Aufmerksamkeit erregende Prominenz lässt Fans und Zuschauer aller Orten sich über die angemessene Form der Trauer hinwegsetzen, psychische Ressourcen verschwenden und zu einer billigen Erregungsgemeinschaft des totalen Entertainments werden. Denn Trauer macht unangreifbar – ganz nach George W. Bushs Lebensmotto: „Mit Gott streitet man nicht.“
Gemeinschaft stiftet Identität
Natürlich lässt Gemeinsamkeit Emotionen entstehen und verstärkt sie, nicht zuletzt durch die Freude über den Sieg und die Trauer über die Niederlage. Wer je in Gemeinschaft ein Fußballspiel erlebt hat, weiß, wie sehr und wie schnell man vom passiven Betrachter zum mitfiebernden Akteur wird ¬– nach dem Motto „Geteilte Freude ist doppelte Freude, geteiltes Leid halbes Leid.“
Dass das Public Viewing so starken Zulauf erfährt, hat vor allem andere Gründe. Die Mehrzahl der „public viewer“ feiert sich selbst als Zuschauer, als Auch-Anwesende auf einem Platz, an dem es keine leibhaftigen Fußballspieler gibt. Sie befriedigen vor allem ihre Lust auf Abwechslung oder wollen dabei sein, wo auch ihre Freunde und Bekannten sind – und seien es mehrere Hunderttausend auf der Fanmeile in Berlin. Durch die Teilnahme an solchen Veranstaltungen versichert man sich auch des sozialen Umfelds, des nützlichen Netzwerks von Freunden und Bekannten. Das gemeinsame Miterleben von Sportveranstaltungen über Leinwand erzeugt überdies Gemeinschaft und macht diese Großereignisse zu Identitätsstiftern.
Public Viewing eröffnet auch neue Möglichkeiten für ausländische Gäste, bei Großereignissen wie die Weltmeisterschaft eingebunden zu werden und Land und Leute besser kennen zu lernen. Nicht ohne Grund war nach der WM 2006 nicht nur vom „Sommermärchen“, sondern auch vom weltmeisterlichen Bild Deutschlands im Ausland die Rede.
Sozialwissenschaftler stellen sich bereits die Frage, ob die Diskrepanz zwischen der aktiven Teilnahme im Stadion und den passiven Sehgewohnheiten vor dem TV-Schirm durch Public Viewing als eine dritte Rezeptionsform aufgehoben werde. Kommt es gar zu einem gegenläufigen Trend, der die digitale Vereinsamung zurückdrängt und die „public viewer“ zum Motor einer umfassenden Mitmachgesellschaft macht? Das zu erwarten, wäre verfrüht, vielleicht sogar töricht, denn überall dort, wo die Form zur Show wird, ist die Gefahr groß, dass die Form zugrunde geht.
Public Viewing als Public Relations?
Das beweisen nicht nur die medialen Shows von den überbordenden Fanmeilen und die gelegentlichen Randale in den Stadtteilen, wo die Welt nicht (mehr) zu Gast bei Freunden ist. Auch die Fußballspiele der Bundesliga und die Konzerte aus Tonhallen, die inzwischen in Biergärten und Gasthäusern, in Schulen und Krankenhäusern, Kirchen und Unternehmen übertragen werden, legen davon Zeugnis ab. Davon zeugen in erster Linie jene „public viewer“, denen es nicht um das Ereignis, sondern um die Party geht. Für sie verliert der Fußball, der keine andere Gnade kennt als den Sieg, den Sinn der gemeinsamen Ekstase.
Die Teilnehmer am Public Viewing sind vor allem junge Leute, die Älteren ziehen das gemütliche Wohnzimmer vor. Dahin könnte es aber auch die Jüngeren wieder treiben, wenn die Großbildleinwände mit Werbung dauerberieselt werden und die Bildauswahl nicht in der Verantwortung des Mediums, des Rundfunks oder Fernsehens, sondern der UEFA, der FIFA oder eines anderen Veranstalters steht und das Public Viewing sich in Public Relations verwandelt.
Die traditionelle Fankultur wurde nicht erst durch das Public Viewing in Verlegenheit gebracht, sondern bereits durch die Werbung um neue Fans, die vor zwanzig Jahren durch neue Formate, Showeffekte und ausführliche Hintergrundberichte in den TV-Übertragungen privater Sender einsetzte. Dazu kommt, dass im letzten Jahrzehnt neue Fußballarenen auf- und alte Betonschüsseln zu modernen Multifunktionsarenen umgebaut worden sind. Nicht zuletzt haben sich die Vereine selbst auf den Weg zur Erschließung neuer Einnahmequellen gemacht, Logen und VIP-Räume eingerichtet und sich dem Merchandising verschrieben. Und längst haben sich Vereine, zumal die Großen der Bundesliga, und Turniere wie die Europa- oder Weltmeisterschaft zu eigenständigen Akteuren der globalen Inszenierung gemausert, für die die Fans bestenfalls willfährige Kunden sind.
Auch bei dieser Weltmeisterschaft hat man stellenweise den Eindruck, dass sie zu einer reinen Marketingveranstaltung verkommen ist und nur zählt, ob das Fußball-Drama fernsehtauglich ist. Geht es noch um den Sport und die Fairness oder nur mehr um den Stellenwert der Akteure in der Öffentlichkeit?
Mama, Schwester, Oma, Freundin
Diese Entwicklungen haben auch neue Zuschauer ins Stadion gebracht, nicht nur Vater und Sohn, sondern auch Mama, Schwester, Oma, Freundin und Geschäftsleute, nicht immer zum Nutzen des Sports und zur Freude am Fußball. Aber Hand aufs Herz: Erst die Fans machen das Fußballmatch zum freudigen, manchmal traurigen, jedenfalls lustvoll leidigen Erlebnis! Denn ihnen geht es darum, Teil eines Ganzen zu sein, die Stimmung zu erleben, dabei zu sein und zum Erfolg der Mannschaft beizutragen. Der Fan sieht sich nicht als anonymer Zuschauer, sondern als mündiger Mitgestalter des Gesamtkunstwerks Fußball. Ohne ihn wäre nichts los, gäbe es keine Stimmung in den Kurven, kein Spiel. Denn die VIPs sind längst schon aus dem Stadion verschwunden oder halten sich in bewachten, becaterten Räumen auf, wenn die Fans noch da sind und in ihrer Kurve feiern oder trauern. Ob sich dessen die VIPs und andere „Sesselpupser“ bewusst sind?
Stürben die wahren Fans aus, nähme auch der Begriff des Public Viewing seine eigentliche Bedeutung an, verbinden doch die Engländer mit „public viewing“ die öffentliche Aufbahrung von Toten. Und das wäre nicht nur peinlich, sondern zum Schaden des wahren Fußballs, des ehrlichen Sports!
Der Soziologe Hermann Strasser ist emeritierter Professor an der Universität Duisburg-Essen, forscht zu Fragen des sozialen Kapitals und schreibt Biografien.