Straßburg. Einen Monat vor der Europawahl zeigen die Bürger wenig Interesse. EU-Parlamentarier fürchten eine Rekord-Enthaltung. In Chat-Foren buhlen sie um die Gunst der jungen Wähler

Arbeitszeit für Fernfahrer, Regeln für den Finanzmarkt, Öko-Etiketten für Fernseher - in der letzten Plenarsitzung vor der Wahl herrschte im Europaparlament Hochbetrieb. Im Rekordtempo verabschiedete die Straßburger Versammlung diese Woche neue Vorschriften. Vor der Wahl Anfang Juni sollen möglichst viele EU-Regelungen festgezurrt werden - vor allem in den Bereichen Verbraucher- und Umweltschutz. Denn die Wahl, so befürchten viele Abgeordnete, könnte dem Parlament einen Rechtsruck bescheren und zugleich das Gewicht der Euroskeptiker in der Straßburger Versammlung stärken.

Davon geht auch Andreas Maurer von der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik aus. Euroskeptische Parteien wie die irische Libertas, die britische UKIP oder die tschechische ODS könnten dank populistischer Slogans an Zulauf gewinnen, meint der EU-Experte. Hinzu kämen traditionelle EU-Gegner vom extremen rechten und linken Rand. Insgesamt könnten so im nächsten Europaparlament mit seinen dann 736 Abgeordneten gut hundert Euroskeptiker sitzen, deren erstes Ziel es sei, die EU-Gesetzgebung zu blockieren.

Auftrieb für Extremisten

Dieser Trend sei vor allem zu erwarten, wenn viele Bürger den Urnen fernblieben, sagt der Fraktionsvorsitzende der konservativen Europäischen Volkspartei (EVP), Joseph Daul. «Je geringer die Wahlbeteiligung, desto besser das Abschneiden der Extremisten», warnt der Elsässer. Die Sorge ist berechtigt - zumindest nach bisherigen Umfragen. Demnach könnte die Wahlbeteiligung noch unter die 44 Prozent bei der Europawahl vom Juni 2004 fallen.

Der deutsche Grüne Daniel Cohn-Bendit macht dafür in erster Linie die politischen Parteien verantwortlich. Sie missbrauchten die Europawahl zum Austragen interner Zwiste. In Deutschland werde der anlaufende Europawahlkampf zudem von der Bundestagswahl im Herbst überschattet. «Die Parteien tun sich schwer, die Europawahl als eigenständige Wahl darzustellen».

EU-Abgeordnete mit großem Einfluss

Das geringe Interesse an der Wahl ist paradox. Schließlich hat das Europaparlament ein Mitentscheidungsrecht in zahlreichen Bereichen, die direkt das tägliche Leben der Bürger beeinflussen. Ob es um Normen für Autoabgase oder die Energieeffizienz von Kühlschränken und Glühbirnen geht, um Regeln zur Sicherheit von Spielsachen, Medikamenten oder Kosmetika, um Vorschriften zur Kennzeichnung von Nahrungsmitteln oder Zigarettenschachteln, um die Müllentsorgung, oder den Einsatz erneuerbarer Energien - in all diesen Fragen entscheiden Ministerrat und Parlament gemeinsam.

Nicht selten wurden Vorhaben auf Druck der EU-Volksvertretung erheblich abgeändert. So haben die EU-Abgeordneten die heftig umstrittene Richtlinie zur Liberalisierung der Dienstleistungen völlig umgekrempelt. Ihnen ist zu verdanken, dass etwa polnische Klempner oder tschechische Maler das deutsche Arbeitsrecht einhalten müssen, wenn sie ihre Dienste in Deutschland anbieten. Derzeit entscheidet das Europaparlament gleichberechtigt mit dem Rat bei fast 80 Prozent der EU-Gesetze mit. Mit Inkrafttreten des Reformvertrags von Lissabon wird das Parlament ein Mitentscheidungsrecht auch bei der Agrar- und Fischereipolitik sowie im Bereich Justiz und Inneres bekommen. Dann werden über 90 Prozent der EU-Gesetze von Parlament und Rat verabschiedet.

Wahlkampf im Internet

"Viele Bürger wissen das aber nicht», bedauert eine Sprecherin des Parlaments. Die EU-Volksvertretung setzt nun verstärkt auf das Internet, um solche Wissenslücken zu schließen. Mit eigenen Profilen in den Chat-Foren Facebook und MySpace will sie vor allem jüngere Leute für die Wahl interessieren. Unter dem Motto «Europawahl - das ist Deine Entscheidung» erfahren Nutzer der Internet-Netzwerke beispielsweise, was die EU getan hat, um die Kosten für Handy-Gebühren und SMS-Nachrichten zu senken. (afp)