Essen. Die NRW-SPD taucht vor der Landtagswahl in die praktische Berufswelt ein. Alle 130 Kandidaten sollen sich bei mehreren eintägigen Arbeitseinsätzen in Betrieben „einem Praxis- und Realitätstest unterziehen”, der auch Einfluss auf die künftige Politik haben werde, so Landeschefin Kraft.
Die Arbeiterpartei entdeckt die Arbeit. Wenn namhafte Politiker, meist in Begleitung des Firmenchefs und medial gut ausgeleuchtet, Unternehmen besuchen, ist die Visite bei der werktätigen Bevölkerung meist schnell vorüber. Die SPD in NRW will es vor der Landtagswahl anders machen, um sich „neu zu erden in der wirklichen Welt der Menschen”, wie es Spitzenkandidatin Hannelore Kraft formuliert. Deshalb werden alle Landtagsabgeordneten und neuen Kandidaten zu mehreren eintägigen Einsätzen in die Betriebe geschickt.
„Wir haben die Leistungsträger kennengelernt”, berichtet Kraft nach ihrer Schicht in einer Duisburger Näh-Werkstatt, wo sie mit „Zwei-Euro-Jobberinnen” Blätter bestickt und über ihre Sorgen geredet hat. „Die Leute wollen arbeiten”, sagt sie, und es sei zu spüren, „was Würde mit Arbeit zu tun hat”. Pressebegleitung ist nicht vorgesehen, aber selbstredend ist dafür gesorgt, dass die Bilder malochender Genossen im Wahlkampf genügend Verbreitung finden.
Kraft sucht die Wählernähe
Im Land des selbsternannten Arbeiterführers Jürgen Rüttgers plant die SPD den ersehnten Rückweg in die CDU-geführte Staatskanzlei über die Arbeitswelt, ihr einstiges Hoheitsgebiet, aber auch über soziale Einrichtungen. Kraft, die in der Kompetenz-Bewertung noch weit hinter dem Ministerpräsidenten liegt, sucht die Nähe des Wählers. „Von Mensch zu Mensch” heißt eine Serie abendlicher Auftritte, bei der sie „in persönlicher Atmosphäre” auch über ihr Privatleben bereitwillig Auskunft gibt.
Inhaltlich setzt Kraft, um am 9. Mai zu gewinnen, vor allem auf das Thema Bildung. Der schwarz-gelben Landesregierung wirft sie vor, ein „gigantisches Chaos” in der Schulpollitik angerichtet zu haben. Bei der Landtagswahl fällt die Vorentscheidung, ob das dreigliedrige Schulsystem in NRW Zukunft hat oder sich das Modell der Gemeinschaftsschule durchsetzt. Mit ihrem jüngsten Vorstoß für eine Korrektur des „Soli” hat die SPD-Chefin außerdem klargemacht, dass sie im Wahlkampf immer wieder auf die Notlage „ausblutender Städte” hinweisen wird.
Keine Absage an die Linken
Rüttgers sieht sie als Arbeiterführer „entzaubert”, schließlich habe er in Berlin einen Koalitionsvertrag unterschrieben, der reiche Erben und Hotels entlaste. „Die Menschen spüren, dass da ein Wahlbetrug angelegt ist”, sagt sie über die Gegenfinanzierung nach der Wahl. Das würde sie Rüttgers auch in einem TV-Duell vorhalten wollen - aber noch schweigt der Regierungschef zu ihrer Forderung.
Ein Schattenkabinett will Kraft nicht vorstellen, sondern ein „Team”, und sie kündigt „spannende Personalien” an. Zu einer Absage an die Linke ringt sie sich trotz zunehmender Distanzierung („weder regierungs- noch koalitionsfähig”) nicht durch. „In einem Fünf-Parteien-System kommt man mit Ausschließeritis nicht weiter”, sagt sie. Das hielten FDP und Grüne ebenso.