Essen. Weil es nicht gut läuft, stellen immer mehr Menschen in Deutschland das ganze System in Frage. Helfen könnte eine Wahrheitsbiegerin: Wagenknecht.
Von einem „grundsoliden Schwiegersohntyp“ erwartet man Höflichkeiten, Angenehmes, Weichgespültes. Hendrik Wüst, das wird immer deutlicher, will das Klischee nun endgültig loswerden. Der NRW-Ministerpräsident ist inzwischen ein ernstzunehmender Kanzlerkandidatenkandidat. Sicher genießt er diesen Bedeutungszuwachs – und aus dem neuen Bewusstsein heraus kommen plötzlich Klartextsätze, die mich persönlich sehr positiv überrascht haben.
Nazi-Partei AfD
„Wenn die prägende Figur einer Partei Nazi ist, dann ist das eine Nazi-Partei“, sagte Wüst vor einigen Tagen im NRW-Landtag. Er meinte den Faschisten Björn Höcke und die AfD. So klingt ein entschlossener Politiker, ein aufrechter, wehrhafter Demokrat, der sich der aufziehenden Gefahr in den Weg stellt. Schwiegersohn-Sprech ist das nicht, und das ist gut so.
Denn die Gefahr wächst. Die AfD erreicht in den Umfragen ungeahnte Höhen, und man kann nur hoffen, dass die Luft dort oben angesichts des (qualitativen und quantitativen) Personalmangels in den Kommunen so dünn ist, dass es den Funktionären an der Spitze nicht gelingen wird, diesen Stimmen- und Machtzuwachs durch eine funktionierende Parteiorganisation in der Breite im gleichen Tempo abzusichern und zu etablieren. Aber verlassen kann man sich darauf nicht – trotz des enormen Streitpotenzials der vielen kleinen selbstsüchtigen Radikalinskis vor Ort, die sich gerne auch mal selbst zerlegen.
Die überschätzte Mitte
Über die Ursachen dieser unschönen Entwicklung wird in diesen Tagen viel spekuliert. Dass manche Bürger einer unglücklich agierenden Bundesregierung Denkzettel verpassen wollen, ist sicher nicht falsch. Der Hinweis könnte aber auch den Blick darauf verstellen, dass unsere sogenannte bürgerliche Mitte, diejenigen also, die die Basis unserer Gesellschaft, unseres Staates und des damit verbundenen politischen Systems bilden, entweder viel kleiner ist als gedacht und/oder weniger bürgerlich als gehofft. Das wiederum wäre eine Hiobsbotschaft im Hinblick auf die Stabilität unserer Demokratie, die für weite Teile der Nachkriegsgeneration eine totale Selbstverständlichkeit zu sein scheint, was ein fataler Irrtum wäre.
Der langjährige konservative Politikredakteur der „Rheinischen Post“, Reinhold Michels, schrieb neulich in einer Aufweck-Analyse, die „lieben Deutschen“ seien „im Grunde Schönwetter-Demokraten“, und fügte hinzu: „Sobald die schwierige Staatsform Demokratie, die den selbstbewussten Citoyen erfordert und nicht den schleichenden, spießigen Bourgois, keine saftigen Wohlstandsversprechen mehr bietet, stellt der ewige germanische Wackelkandidat gleich das ganze System in Frage.“ Michels schlussfolgerte daraus, dass die wehrhafte Demokratie gar nicht so wehrhaft sei wie gehofft. Jedenfalls seien die Anhänger der freiheitlich-demokratischen Grundordnung nicht unbedingt stärker als ihre Gegner.
Autoaggressives Selbstmitleid
Ich fürchte, da ist eine Menge dran. Könnte es sein, dass wir als Volk nicht genug Resilienz, nicht genug Widerstandskraft aufweisen angesichts des Krisen-Dauerfeuers? Wir alle leiden, die eine mehr, der andere weniger, unter den Corona-Folgen; die Inflation frisst uns den Wohlstand weg; der Klima-Wandel schränkt uns in unseren Freiheiten ein; die Kriege in der Ukraine und in Nahost schüren unsere Ängste zusätzlich. Ja, das ist alles schlimm, das nervt, das belastet. Aber wann endlich hören wir auf mit diesem Selbstmitleid, das zunehmend autoaggressive Züge annimmt? Wann endlich packen wir es wieder an, lösen die Probleme, Schritt für Schritt, auch wenn es anstrengend wird? Wann hören wir endlich auf, solche Waschlappen zu sein, die den Nazi-Lügenbolden bereitwillig auf den Leim gehen, sobald es eng wird?
Was bietet die AfD denn wirklich an außer Angst, Wut und Hass zu befeuern? Statt Probleme zu lösen werden sie geleugnet. Das ist zwar strohdoof, aber hübsch einfach. Corona? Klimawandel? Der böse Putin? Das sind nach Lesart von Alice Weidel and friends alles Erfindungen.
Da, wieder ein AfD-Wähler!
Wie viele Tassen im Schrank können einem fehlen, um auf diese billige Nummer hereinzufallen, massenhaft hereinzufallen? Manchmal fange ich an, wenn ich auf der Straße stehe, zu zählen. Eins, zwei, drei, vier – jetzt kommt wieder ein potenzieller AfD-Wähler – sechs, sieben, acht, neun – da, noch einer! Und dann denke ich mir: So blöd können wir doch nicht sein. Wir sind hier doch in Deutschland, meinem Deutschland.
Und dann kommen auch noch so viele Flüchtlinge ins Land. Die meisten von uns merken davon zwar kaum etwas – aber das Fremde ist bestens geeignet als Projektionsfläche für alles Schlechte, alles, was nicht funktioniert. Prompt identifizieren wir Deutschen die Migration als Hauptproblem, noch vor Krieg, Klima und Inflation. Merken wir eigentlich nicht, wie schwach das ist? Die Ärmsten und Schwächsten sind verantwortlich für unser Generalversagen? Um nicht missverstanden zu werden: Ich will die Probleme rund um die Migration nicht kleinreden. Ich habe mich dazu hier mehr als einmal eindeutig positioniert. Aber wo ist die Relation zu einem Klimawandel oder zu Kriegen, die das Potenzial haben, die Menschheit zu vernichten?
In love with Sahra
Und damit wäre ich am Ende bei der von mir ganz und gar nicht geschätzten Sahra Wagenknecht. Auch sie ist eine unerträgliche Populistin und Wahrheitsverbiegerin. Auch sie bietet keinerlei seriöse Lösungen an. Paradoxerweise freue ich mich trotzdem darüber, dass sie nun eine eigene Partei gründet und dass diese Partei Meinungsforschern zufolge ein stattliches Wählerpotenzial aufweist, und drücke ihr fest die Daumen.
Denn eine Wagenknecht ist immer noch besser als die Nazis. Ihr traue ich zu, die AfD bei Wahlen kleinzukloppen, weil sie im selben trüben Teich fischt. Selbst wenn als Nebenwirkung das Parteiensystem weiter zersplittert und Regierungsbildungen nicht einfacher werden, so wäre das doch das kleinere Übel. Die bisherige Linken-Politikerin will am Montag in Berlin über die von ihr geplante Parteineugründung informieren.
Das ist Klartext
Klare Kante, klare Meinung – das ist Klartext, die kommentierende Kolumne von Alexander Marinos, stellvertretender Chefredakteur der WAZ. Hier werden aktuelle politische Themen aufgegriffen und subjektiv-zugespitzt eingeordnet. Dabei handelt es sich um ein Meinungsangebot zum An- oder Ablehnen, An- oder Aufregen.Alle Folgen der Kolumne finden Sie hier.Klartext als Newsletter? Hier anmelden.
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