Ruhrgebiet. Von Fußballfieber keine Spur. Im Gegenteil. Kurz vor Beginn der WM werden Wirte, die die Spiele in ihrer Kneipe übertragen, übel beschimpft.
Wenige Tage bis zum ersten Anstoß bei der Fußball-Weltmeisterschaft 2022. Von WM-Stimmung aber ist im Land nichts zu spüren. Keine Flaggen, keine Fahnen, nicht mal Fähnchen. Nirgendwo. Dafür wächst der Druck auf die Wirte, die die Spiele aus Katar in ihren Bars und Kneipen übertragen.
Je näher das Eröffnungsspiel kommt, desto mehr Menschen kündigen in den sozialen Netzwerken an, diese Fußball WM nicht im Fernsehen zu schauen. Und in immer mehr Boykottaufrufen werden Wirte aufgefordert, die Spiele nicht zu zeigen – wenn auch bisher mit übersichtlichem Erfolg. Bei #KeinKatarinmeinerKneipe haben derzeit rund 200 der etwa 22.500 Kneipen im Land angekündigt, den Fernseher auszulassen. Die meisten gibt es in Köln, Boykotteure aus dem Revier lassen sich an den Fingern einer Hand abzählen.
„Mittlerweile schlägt uns richtiger Hass entgegen“
Vielleicht wächst auch deshalb im Netz der Druck auf alle Kneipiers, bei denen die Begegnungen über die Bildschirme flimmern sollen. „Schämt Euch“, „eine Schande“, „ihr seht mich nie wieder“ sind da noch Kommentare der harmloseren Art. „Mittlerweile schlägt uns richtiger Hass entgegen“, bestätigt Christian Bickelbacher, Betreiber der Three Sixty Sportbars unter anderem in Oberhausen und Bochum. Ob das Leder in seinen Sportbars trotzdem rollt? Rhetorische Frage.
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Er kann jeden Kollegen verstehen, der den Fernseher auslässt. Aber auch jeden, der ihn einschaltet. „Das heißt ja nicht, dass man die Kritik an Katar nicht teilt.“ Viele Betriebe aber seien nach über zwei Jahren Corona auf jeden Euro Umsatz angewiesen. „Wir schwimmen ja nicht gerade im Geld“, bestätigt ein Wirt aus Gelsenkirchen, der ungenannt bleiben möchte.
Die Euphorie ist verflogen
Auch Jörg Kemper, Wirt vom „Wenkers am Markt“ in Dortmund, kennt die Diskussion. Er hat sich entschieden, die Sache demokratisch anzugehen. „Wenn bei Deutschland-Spielen die Mehrheit der Gäste dafür ist, mache ich die Fernseher an, sonst bleiben sie aus.“
Aber Boykottaufrufe sind längst nicht das einzige Problem der Gastronomen und Veranstalter. „Die große Zeit der Public Viewings ist lange vorbei“, weiß Bickelbacher. Erst recht, wenn es draußen stürmt und friert und vor allem, wenn die Nationalmannschaft spielt. „Nur für das Spiel der Deutschen gegen Spanien laufen die Reservierungen bereits gut“, sagt Bickelbacher. „Die Euphorie ist spätestens seit der WM 2018 verflogen, bestätigt sein Gelsenkirchener Kollege.
Kaum Aktionsartikel im Lebensmittelhandel
Fußballfieber? Die meisten Deutschen haben bisher nicht einmal erhöhte Temperatur. Dementsprechend zurückhaltend reagieren auch Handel und Hersteller. WM-Sondereditionen bei Chips oder Schokolade etwa gibt es 2022 so gut wie gar nicht. Und zu sehen sind sie in vielen Läden erst, wenn man danach sucht. Denn die meisten Sonderverkaufsflächen sind derzeit durch Lebkuchen, Spekulatius & Co blockiert. „In Sachen Aktionsaufbauten steht aktuell das Thema Weihnachten im Fokus“, sagt Simone Erkens, Sprecherin von Edeka Rhein Ruhr.
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Auch draußen wird man eher geschmückte Bäume als verkleidete Fußballanhänger sehen. Die großen Brauereien haben die WM deshalb angehakt. „Wir haben keine Hoffnung, dass es spürbare Verkaufsimpulse gibt“, heißt es bei Veltins. „Keine Effekte“ erwarten auch Krombacher-Sprecher Peter Lemm und Warsteiner-Sprecherin Simone Lápossy.
Brauer haben das Turnier bereits abgehakt
Dabei werden bei einer WM je nach Abschneiden der deutschen Elf normalerweise bis zu eine Million Hektoliter mehr Bier getrunken. Im Sommer. „Aber von dem Event im Winter erwartet sich unsere Branche keine Impulse, das muss man ganz nüchtern betrachten“, sagt Holger Eichele, Hauptgeschäftsführer des Deutschen Brauer-Bundes.
Selbst WM-Brot backen die Bäcker im Revier nicht für dieses Turnier. „Kein Thema“, sagt Tristan Förster, Sprecher der Bäckerinnung Rhein-Ruhr. „In diesen Wochen ist so viel im Angebot, dass gar keine Zeit bleibt für ein weiteres Zusatzprodukt.“ Außerdem wäre so ein Brot unter den derzeitigen Umständen wohl auch ein „Ladenhüter“.
Übertragung auf zwei Weihnachtsmärkten
Fernseher sind zwar keine Ladenhüter, aber „einen merklichen Anstieg wie bei den letzten Europa- und Weltmeisterschaften sehen wir derzeit noch nicht“, heißt es auf Anfrage bei MediaMarktSaturn, wo man aber große Hoffnungen in den in der ersten WM-Woche stattfindenden Sonderangebotstag „Black Friday“ setzt.
Prognosen über die Auswirkungen der Weltmeisterschaft seien „schwierig“, sagt der Handelsverband Rhein Ruhr. „Bisher gibt es ja keine Erfahrungen mit einem solchen Fußball-Turnier im Winter“, sagt Sprecherin Carina Peretzke. Und auch auf den Weihnachtsmärkten in Hagen und Dorsten haben Händler und Veranstalter noch nicht ganz aufgegeben und zeigen zumindest die drei Vorrunden Spiele der Deutschen.
Der Wirt aus Gelsenkirchen bleibt skeptisch. „Die Deutschen müssten schon mit Glanz und Gloria mindestens ins Halbfinale einziehen, damit sich für die sportliche Seite des Turniers interessieren“, glaubt er. „Aber wie wahrscheinlich ist das denn?“