Essen. Ist Sahra Wagenknecht eigentlich links- oder rechtsradikal? Egal. Ihre verlogenen Thesen verfangen, denn immer mehr Menschen geraten in Not.
„Das macht dann 214,23 Euro“, sagt die Kassiererin. Ich schaue auf die Tüten in meinem Einkaufswagen. Es war der ganz normale samstägliche Wocheneinkauf für zwei Erwachsene und zwei Kinder im Grundschulalter. Es sind Obst, Gemüse, Milch, Brot, Butter, Aufschnitt, Schnitzel, Würstchen, Gummibärchen – nichts Besonderes eigentlich. Noch nie lag ich damit jenseits der 200-Euro-Grenze. 150 Euro, 170 vielleicht. Ich sehe die Verkäuferin ungläubig an. Sie interpretiert meinen Blick sofort richtig. Diesen Blick, den sieht sie am Tag x-fach. „Ja“, sagt sie, „ich weiß. Es macht keinen Spaß.“
Ich fahre nach Hause. Im Briefkasten liegt Post vom Verein der Freunde und Förderer unserer Grundschule. Es ist eine Rechnung. In der Ganztagsbetreuung werden unsere beiden Kinder mit Mittagessen verpflegt. Wir sollen für das Essen des kommenden Jahres 1488 Euro überweisen. Eintausendvierhundertachtundachtzig. Auch das macht „keinen Spaß“.
Entlastungspakete dürften nicht reichen
Nun gehöre ich zu jenen glücklichen Menschen, die über ein gutes Einkommen verfügen. Die Inflation tut weh, sie kostet Wohlstand, sie bringt meine Familie und mich aber nicht in Not. Das sieht bei anderen Familien ganz anders aus. Eine alleinerziehende Verkäuferin mit zwei Kindern aus Essen-Borbeck kann es sich nicht leisten, mal eben ein Monats-Nettogehalt für das Mittagessen in der Schule zu überweisen. Brötchen vom Bäcker sind dann auch nicht mehr drin, ein Urlaub schon länger nicht mehr, und auf die Abschlagsrechnung für Strom und Gas kann sie nur mit Bangen warten. Diese Frau bewegt sich, geht das mit dem Preisauftrieb so weiter, am Rande ihrer Existenz. Es steht zu befürchten, dass die bisherigen Entlastungspakete der Bundesregierung nicht reichen werden, um die wirtschaftliche Existenz der Verkäuferin und ihrer Kinder zu sichern.
Und dann kommt ... Sahra Wagenknecht, ebenso umstrittenes wie prominentes Mitglied der Linken, einer Partei, die sich auch am Rande der Existenz bewegt, der politischen Existenz. Wir hätten „die dümmste Regierung in Europa“, wettert Wagenknecht im Bundestag, dem hohen Haus der Demokratie. Die Bundesregierung habe „einen beispiellosen Wirtschaftskrieg gegen unseren wichtigsten Energielieferanten vom Zaun gebrochen“. Millionen Familien in Deutschland würden in die Armut stürzen, während Gazprom Rekordgewinne mache. „Ja, wie bescheuert ist das denn?“
Ist Sahra Wagenknecht eine AfD-Politikerin?
Eine gute Frage ist das. Die alleinerziehende Mutter aus Borbeck wird nicht lange überlegen müssen. Wer Wagenknecht ist, was sie tut, warum sie es tut, welcher Partei sie angehört, ob Linkspartei oder AfD – das spielt keine besondere Rolle. Bescheuert! Das Wort dürfte verfangen.
Einige Tage später ist Ex-Linkspartei-Chef Klaus Ernst bei Sandra Maischberger zu Gast. Gleich zu Beginn eines denkwürdigen Talks verbittert er es sich, dass ihm jemand ins Wort fällt, wenn er redet, und dann fängt er an zu reden und hört nicht mehr auf und wird lauter und lauter dabei. Er hat eine Menge zu sagen. Sahra Wagenknecht habe doch recht, findet er. Ja, sicher, Russland habe den Krieg angefangen, „aber geschossen wird auf beiden Seiten“. Die Angst vor den Russen sei „absoluter Blödsinn“. Deutschland habe einen „Wirtschaftskrieg“ gegen Russland begonnen, gegen den sich Moskau nur wehre, indem es uns das Gas abdrehe.
Klaus Ernst fehlen nicht nur ein paar Tassen
Ich sitze im Wohnzimmer und habe den Impuls, Ernst ein paar deftige Beleidigungen an den Kopf zu werfen. Aber dieses Rumpelstilzchen in meinem Fernseher würde es nicht hören, stattdessen würden meine Kinder wach. Also fresse ich es mit ein paar Chips in mich hinein.
Eines ist klar: Wagenknecht und Ernst fehlen nicht nur ein paar Tassen im Schrank. Denen fehlen inzwischen ganze Schränke. Wie muss man drauf sein, die offensichtlichsten Kreml-Lügen eins zu eins zu übernehmen, Ursache und Wirkung derart zu vertauschen und aus dem skrupellosen Täter das bemitleidenswerte Opfer zu machen?
Die Linke ist in NRW eine Splitterpartei
Was Wagenknecht und ihr Genosse Ernst verschweigen: Zu den Wirtschafts-Sanktionen gegen Russland gab es, erstens, keine Alternative. Dass ein imperialistischer Diktator ein anderes Land überfällt und die europäische Nachkriegsordnung zerstört – damit darf er nicht durchkommen, das kann nicht ohne Antwort bleiben. Zweitens setzt Putin Gas als Waffe gegen uns ein, übrigens schon länger; denn dass sich die Gasspeicher in Deutschland vor dem russischen Überfall auf die Ukraine nicht mehr füllten, war sicher kein Zufall. Und drittens mag Gazprom kurzfristig zwar Rekordgewinne einfahren, aber langfristig sieht es für Moskau düster aus. Die bisherigen Gaskunden brechen komplett weg, und die Sanktionen werden Russland auf vielfältige Weise nachhaltig schaden.
Aber um wahrhaftiges Argumentieren geht es Radikalen wie Wagenknecht und Ernst so wenig wie den Ultrarechten in der AfD; da sind sie sich sehr ähnlich. Ihnen geht es darum, mit dumpfem Populismus Stimmen einzufangen, den eigenen Untergang abzuwehren. Die Linkspartei ist in weiten Teilen Westdeutschlands nur noch eine Splitterpartei. Bei der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen kamen die Linken auf nur noch zwei Prozent. Man muss schon mit dem Elektronenrastermikroskop auf die politischen Biotope an den Rändern NRWs blicken, um ein paar linke Sektierer zu entdecken.
Angst vor dem Wut-Winter
Aber Achtung: Weniger gefährlich macht das Wagenknecht und Co. nicht. Noch ist der Winter gar nicht da; die Inflation ist erst am Anfang; Insolvenzwellen, die massenhaft Arbeitsplätze vernichten könnten, drohen zwar, haben sich aber noch nicht realisiert. Was wird in Deutschland und in den sozialen Brennpunkten im Ruhrgebiet und anderswo los sein, wenn es noch viel bitterer wird? Wie sehr verfängt das, was von Ultra-Rechts bis Ultra-Links kommt, wenn der befürchtete Wut-Winter beginnt? Fehlende Tassen im Schrank hin oder her – unterschätzen sollte man die Wagenknechts dieser Welt nicht. Selten habe sie aus der Bevölkerung so viel Zustimmung erhalten wie nach ihrer Bundestagsrede, sagte Wagenknecht. Das muss man ihr leider abnehmen.
Ich denke an den NRW-Wahlkampf zurück und an eine verstörende Szene in Bochum. Auf dem Dr.-Ruer-Platz in der Bochumer Innenstadt buhlten die Linken kurz vor dem Wahlsonntag eher vergeblich um die Aufmerksamkeit der vorüberziehenden Passanten – bis sie kam, die Ehefrau von Oskar Lafontaine, dieser Rosa-Luxemburg-Verschnitt mit dem strengen Blick und der scharfen Rhetorik. Auftritt Wagenknecht. Ein paar steile Thesen („Corona ist nur eine Erkältung“ oder so), und sie hatte die volle Aufmerksamkeit vieler Bürgerinnen und Bürger. Manche ihrer Fans klebten geradezu an ihren Lippen.
Stegner und Kretschmer besser zuhören
Wie gesagt: Mehr als zwei Prozent der Wählerstimmen kamen unter dem Strich nicht dabei heraus. Aber die Gefahr einer Polarisierung der Gesellschaft in Menschen, die mit der Ukraine solidarisch bleiben, und solchen, die finden, nun sei es auch mal gut, ist real. Umso wichtiger ist es, finde ich, dass man in der öffentlichen Auseinandersetzung Menschen mehr Raum gibt, die eine Ventilfunktion übernehmen können, Menschen, die weder heißblütig eine Waffenlieferung nach der anderen an die Ukraine fordern, noch die Tatsachen derart putinmäßig verdrehen, wie es die radikalen Linken und Rechten tun.
Der SPD-Politiker Ralf Stegner ist so einer. Er lehnte eine militärische Führungsrolle Deutschlands bei Lanz jetzt ab und widersprach damit „seiner“ Verteidigungsministerin. Oder Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer von der CDU, der – auch bei Lanz vor einigen Wochen schon – ein „Einfrieren“ des Krieges gefordert hatte und dafür noch in der Sendung vom Moderator und seinen übrigen Gästen verbal maximal verprügelt wurde.
Ja, wie bescheuert war das denn?
Meinungs- und Zuhör-Freiheit
Um nicht missverstanden zu werden: Ich teile die Positionen von Stegner und Kretschmer nicht. Aber die beiden bewegen sich innerhalb eines demokratischen Diskurses. Wir sollten ihnen daher ruhig zuhören. Bei Wagenknecht und Ernst sieht das anders aus. Auch für sie gilt die Meinungsfreiheit, selbstverständlich. Aber mich kann keiner zwingen, mir diesen perfiden Unsinn noch länger anzuhören.
Auf bald.
Das ist Klartext
Klare Kante, klare Meinung – das ist Klartext, die kommentierende Kolumne von Alexander Marinos, stellvertretender Chefredakteur der WAZ. Hier werden aktuelle politische Themen aufgegriffen und subjektiv-zugespitzt eingeordnet. Dabei handelt es sich um ein Meinungsangebot zum An- oder Ablehnen, An- oder Aufregen.
Alle Folgen der Kolumne finden Sie hier.
Klartext als Newsletter? Hier anmelden.