Essen. Mega-Katastrophen wie Corona und die Klimakrise erfordern Debatten auf höchstem Niveau. Doch nicht wenige halten Niveau für eine Creme.
Neulich bin ich in einem drolligen Kinderbuch auf eines dieser verloren gegangenen Wörter gestoßen, die trotz ihrer besonderen Anmut von der Sprachgemeinschaft schon länger links liegen gelassen werden. Ich meine das wunderschöne Wort „Kinkerlitzchen“. Zurückzuführen ist es, so lerne ich später beim Nachschlagen, auf die Hugenotten, die im 17. Jahrhundert in manchen Gegenden Deutschlands Geschäfte für Eisenwaren eröffneten (französisch „quincaille“), woraus der Volksmund verniedlichend „Kinkerlitzchen“ machte. Das wiederum steht bis heute für wertlosen Kleinkram, für unwichtige Kleinigkeiten – und führt uns unmittelbar hinein in die Niederungen des deutschen Wahlkampfes 2021.
Was könnte das für ein Wahlkampf sein! Gleich zwei Naturkatastrophen epochalen Ausmaßes nehmen die Menschheit in die Zange: die Corona-Pandemie und der Klimawandel. Beides stellt die Politik auf allen Feldern vor ungeahnte Herausforderungen. Gefragt sind visionäre Konzepte und mutige Macher. Das alles entscheidende Amt des Bundeskanzlers / der Bundeskanzlerin ist neu zu besetzen. Nun müsste man ringen um politische Programme und die damit eng verbundenen Personen. Doch wir schauen vor allem auf: politische Kinkerlitzchen.
Die Doofen und die Gerissenen
Dienstagvormittag im Deutschen Bundestag. Die Bundeskanzlerin hält ihre mutmaßlich letzte Rede und versichert im Hinblick auf die Corona-Impfstoffe, niemand sei ein „Versuchskaninchen“. Sie spielt damit auf eine Äußerung des SPD-Kandidaten Olaf Scholz an, der in einem Interview etwas getan hat, was man in der Öffentlichkeit niemals tun darf: Er hat das Stilmittel der Ironie benutzt. Das geht fast immer schief. Die Doofen verstehen es falsch, und die Gerissenen wollen es falsch verstehen.
Das ist Klartext
Klare Kante, klare Meinung – das ist Klartext, die kommentierende Kolumne von Alexander Marinos, stellvertretender Chefredakteur der WAZ. Hier werden aktuelle politische Themen aufgegriffen und subjektiv-zugespitzt eingeordnet. Dabei handelt es sich um ein Meinungsangebot zum An- oder Ablehnen, An- oder Aufregen.Alle Folgen der Kolumne finden Sie hier.Klartext als Newsletter? Hier anmelden.
„50 Millionen sind jetzt zwei Mal geimpft“, hatte Scholz der „FAZ“ gesagt und hinzugefügt: „Wir waren ja alle die Versuchskaninchen für diejenigen, die bisher abgewartet haben. Deshalb sage ich als einer dieser 50 Millionen – es ist gut gegangen! Bitte macht mit.“ Es ist leicht erkennbar, dass Scholz sich und die anderen Millionen Geimpften gerade nicht als Versuchskaninchen sieht – erkennbar für den CDU-Kandidaten Armin Laschet, der sich in seiner ganzen Verzweiflung nur deshalb künstlich empört, um die für ihn schlechten Umfragewerte doch noch zu drehen, und erkennbar für die Kanzlerin. Ich finde es bemerkenswert, ja enttäuschend, dass ausgerechnet sie sich für ein derart billiges Wahlkampfmanöver hergibt. In ihrer letzten Rede. Im Bundestag.
Komplexität geht gar nicht
Dabei gäbe es gute Gründe, sich den Kanzlerkandidaten der SPD auf seriöse Weise vorzuknöpfen: Die Wirecard-Affäre und die dubiosen Cum-Ex-Geschäfte der Banken haben Schäden in Milliardenhöhe angerichtet. Das sind die Leichen im Keller des Hauses „Scholz“. Doch beide Skandale sind komplex; nicht leicht zu verstehen, nicht leicht zu vermitteln. „Versuchskaninchen“ ist die bessere Schlagzeile, ist der knalligere Aufreger. Da kann jeder mitreden auf Facebook, Twitter und Co., wo das potenzielle Massenpublikum immer nur einen Klick weit entfernt ist, um sich unter Auslassung aller Anstands- und Rechtschreibregeln faktenfrei zu empören.
Ein leicht frisierter Lebenslauf hier, ein dummes, unpassendes Grinsegesicht dort, und schon zucken die Umfragewerte wie die Börsenkurse kurz vor dem totalen Crash. Aber das mit Abstand Schlimmste (ACHTUNG, IRONIE!) hat sich Grünen-Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock geleistet, als sie das „N-Wort“ in den Mund nahm. Das N-Wort! Sie wissen schon (ich traue mich kaum, es aufzuschreiben) ... Es fängt mit Ne an und hört mit (Är)ger auf. Baerbock erzählte von dem Sohn einer Bekannten, der in der Schule eine Geschichte mit dem N-Wort erzählen sollte, was sie, Baerbock, selbstverständlich als rassistisch einordnete und somit für einen bildungspolitischen Missstand hielt.
Im Schrank fehlen Tassen
Da aber hatte sie die Rechnung ohne die linken Ober-Moralapostel in und außerhalb ihrer Partei gemacht! Baerbock, so schrien sie alle auf, habe das N-Wort selbst reproduziert und damit ein Stück weiter etabliert. Mit anderen Worten: Die Reproduktion des „N-Worts“ soll selbst dann rassistisch sein, wenn man es benutzt, um sich davon zu distanzieren. Ja, haben die eigentlich noch alle Tassen im Schrank?
Haben wir noch alle Tassen im Schrank?
Zugegeben, es wird besser. Die Diskussionen werden, wenige Wochen vor der Wahl, erwachsener. Sieht man mal von der jüngsten Kaninchen-Nummer ab, so beobachte ich bei Bekannten und Nachbarn engagierte Diskussionen nach dem ersten „Triell“ auf RTL, die sich um das Für und Wider des Solidaritätszuschlags für die zehn Prozent Bestverdienenden drehen, um eine Kindergrundsicherung, um grünen Strom und Wasserstoff, um Afghanistan und die Folgen. Vielen dämmert, um was es diesmal alles geht bei dieser Bundestagswahl.
Ein schwerer Rückschlag
Aber dann der Rückschlag, heute Morgen bei einem Spaziergang, als ich (fast) unfreiwillig Zeuge einer Diskussion werde, die zwei junge Frauen führen, die an (Lauf-) Stöcken gehen. Erst geht es um die Flutkatastrophe im Juli, dann um Corona. Erster Satzfetzen: „Früher gab es auch schon verregnete Sommer.“ Zweiter Satzfetzen: „Bei Corona muss man der Natur einfach mal ihren Lauf lassen.“ Ich gehe schneller, damit ich nicht in Versuchung gerate, mich auf allzu unterkomplexe Weise einzumischen. Könnte es sein, dass die Kinkerlitzisierung der Welt tiefer in der menschlichen DNA verankert ist als befürchtet?
Ach so, bevor ich es vergesse: Die hochhackigen Schuhe von Baerbock in der ARD-Wahlarena gingen gar nicht. Auf bald!