Essen. Die Politik lässt neun Millionen Kinder unter 12 Jahren und deren Eltern im Stich, kommentiert der stellvertretende WAZ-Chefredakteur.

Das Coronavirus kann mit dem bisherigen Verlauf des Bundestagswahlkampfes sehr zufrieden sein. Weil nahezu alle verantwortlichen Politikerinnen und Politiker, vom SPD-Gesundheitsexperten Karl Lauterbach abgesehen, weitere unpopuläre Einschränkungen scheuen wie der Teufel das Weihwasser, werden die geradezu explodierenden Inzidenzwerte schlicht für nicht mehr maßgeblich erklärt. Alle Experten bis hinauf zum Bundesgesundheitsminister geben schulterzuckend zu Protokoll, dass sich alle nicht Geimpften voraussichtlich mit dem Virus infizieren werden, früher oder später – speziell in Nordrhein-Westfalen mit seinen traurigen Rekordzahlen eher früher als später.

Der Bundesgesundheitsminister sagt nicht, die Leute seien „selbst schuld“, aber genau das meint er. Schließlich hätte jeder ein Impfangebot erhalten. Wirklich jeder? Zurzeit wird eine Impfung gegen Covid-19 für Schwangere und stillende Mütter von der Ständigen Impfkommission nicht grundsätzlich empfohlen. Deutlich prekärer ist die Situation für alle Kinder unter zwölf Jahren. Das betrifft sage und schreibe neun Millionen Menschen in Deutschland. Für diese neun Millionen Kinder gibt es auf absehbare Zeit keinen zugelassenen Impfstoff. Bereits jetzt liegt die Sieben-Tage-Inzidenz bei den 5- bis 14-Jährigen, rund eine Woche nach Beginn des Schulunterrichts, bei weit mehr als 300 – Tendenz stark steigend. Und der Winter hat noch gar nicht begonnen.

Die Durchseuchung der ungeimpften Bevölkerung wird billigend in Kauf genommen

Bringen wir es also auf den Punkt und sprechen wir aus, was kein Jens Spahn, kein Karl-Josef Laumann und erst recht keine Yvonne Gebauer so formulieren würde: Die Durchseuchung der ungeimpften Bevölkerung inklusive der neun Millionen Kinder unter zwölf Jahren wird billigend in Kauf genommen. Es ist ein riesiges Experiment auf Kosten von Millionen Familien in Deutschland. Und für sie gibt es kein Entkommen. Ja, nach Stand der Forschung zeigen die allermeisten (ansonsten gesunden!) Kinder nach einer Infektion entweder keine oder nur milde Symptome. Das heißt aber nicht, dass schwere Verläufe und Todesfälle auszuschließen sind. Auch diese sind leider dokumentiert.

Der stellvertretende Chefredakteur der WAZ, Alexander Marinos.
Der stellvertretende Chefredakteur der WAZ, Alexander Marinos. © FUNKE Foto Services | Kerstin Kokoska

Was aber gar nicht dokumentiert ist, was schlicht noch niemand weiß, ist die Antwort auf die Frage, welche Langzeitfolgen eine Covid-Infektion bei den Kleinsten haben kann, auch bei mildem Verlauf. Es bestehe „kein Zweifel“, dass es Long-Covid auch bei Kindern gibt, betonte in diesen Tagen noch einmal Sandra Ciesek, die Direktorin des Instituts für Medizinische Virologie am Universitätsklinikum Frankfurt. Da müssten alle Alarmglocken klingeln. Doch zu hören ist – nichts.

Im Gegenteil: Vize-Ministerpräsident Joachim Stamp führt die Menschen in NRW bewusst in die Irre, wenn er sagt, es sei „wissenschaftlicher Nonsens“ zu behaupten, alle Kinder würden erkranken. Das wäre in der Tat „Nonsens“, wenn es denn jemand behaupten würde. Es geht nicht darum, dass alle erkranken; es geht darum, dass sich nahezu alle infizieren werden. Ethisch ist eine solche Politik der Durchseuchung kaum zu rechtfertigen – nicht einmal gegenüber jenen, die eine mögliche Impfung ausschlagen, aus Unwissenheit, Ignoranz, Dummheit.

2G-Regel umsetzen, um die Jüngsten zu schützen

Niemandem ist zu wünschen, nach Luft ringend um sein Leben kämpfen zu müssen, nicht einmal dem lautesten Quer- oder Nicht-Denker. Es wäre jetzt das Mindeste, die 3G-Regeln sofort flächendeckend durch 2G zu ersetzen, also alle Aktivitäten in Innenräumen allein Geimpften und Genesenen vorzubehalten, von lebensnotwendigen Erledigungen einmal abgesehen.

So ließen sich Impfverweigerer vor sich selbst schützen und unsere Kinder vor den Impfverweigerern. Es ist schon länger her, dass namhafte Politiker Familienpolitik ungeniert als „Gedöns“ abgetan haben; die Gleichgültigkeit jedoch, die Familien mit kleinen Kindern in diesen Tagen entgegengebracht wird, ist um einiges schlimmer. Am Anfang der Pandemie haben die Kinder und ihre Eltern zurückgesteckt, um die Alten zu schützen. Wer schützt jetzt die Jüngsten?