Essen. Der Flüchtlingskrisen-Reflex wirkt angesichts der Dramatik in Afghanistan taktlos und wird dem Markenkern des Kanzlerkandidaten nicht gerecht.
Von seinem politischen Ziehvater Peter Hintze hat Unions-Kanzlerkandidat Armin Laschet eigentlich gelernt, vor „schwarzen Katzen“ auf der Hut zu sein. Ein Politiker solle öffentlich nie sagen, was er nicht will, weil es damit überhaupt erst vorstellbar und zum Thema wird, hatte ihm der 2016 verstorbene ehemalige CDU-Generalsekretär einst eingeschärft. Hintze veranschaulichte das Problem mit einer fein gedeckten Tafel mit weißem Tischtuch. Wenn man versuche, ausdrücklich nicht an eine schwarze Katze zu denken, laufe sie vor dem geistigen Auge schon mitten über den Tisch. Wenn ein Politiker also in Bedrängnis betont, er wolle dieses oder jenes „Signal“ nicht senden, leuchtet es bereits knallrot.
Im Afghanistan-Trauerspiel hat Laschet nun eine dicke schwarze Katze laut miauen lassen. Noch während die Taliban am Sonntagabend auf das Zentrum Kabuls vorrückten, ließ er hastig einen „Afghanistan-Plan“ veröffentlichen, in dem auch der Satz auftauchte: „2015 soll sich nicht wiederholen.“ In den Führungsgremien der CDU war einen Tag später von den „Fehlern von 2015“ die Rede. In einer anschließenden Pressekonferenz orakelte Laschet sogar, „dass wir jetzt nicht das Signal aussenden sollten, dass Deutschland alle, die jetzt in Not sind, quasi aufnehmen kann“.
Sofort die Tangente ins Chaos-Jahr 2015 gezogen
In höchster Umfragenot hat der angeschlagene Kanzlerkandidat damit ein Trauma der Union getriggert. „2015“ ist die Chiffre für die syrische Flüchtlingskrise und den zwischenzeitlichen Kontrollverlust an den deutschen Grenzen. Das Jahr steht für eine humanitäre Katastrophe in Syrien und die europäische Uneinigkeit entlang der Balkan-Route. „2015“ gemahnt an den erbitterten Streit um Merkels „Wir schaffen das“ und die bis heute nicht bewältigte Aufgabe, eine Million Menschen aus einem anderen Kulturkreis zu integrieren.
Dass Laschet sofort die Tangente zwischen Afghanistan 2021 und „2015“ zog, ist gleich in mehrfacher Hinsicht problematisch. Es wirkt für eine C-Partei furchtbar selbstsüchtig-herzlos angesichts der dramatischen Bilder aus Kabul. Tagesthemen-Moderator Ingo Zamperoni kleidete das Unbehagen am Montagabend in die entwaffnende Frage an Laschet: „Habe ich das richtig verstanden: Da klammern sich verzweifelte Menschen an startende Flugzeuge und Ihre größte Sorge ist, dass sich 2015 hier bei uns nicht wiederholt?“
Laschet war der treueste Unterstützer von "Wir schaffen das"
Vor allem droht das vielleicht Wertvollste, was der Politiker Laschet zu bieten hat, Schaden zu nehmen: seine humanitäre und weltanschauliche Verlässlichkeit. Der NRW-Ministerpräsident gehörte zu den wenigen CDU-Größen, die Merkels Flüchtlingspolitik immer aus Überzeugung unabhängig von Umfragen und Basis-Wut verteidigt haben. Als sich damals andere Wahlkämpfer wie Julia Klöckner in Rheinland-Pfalz mit einem „Plan A2“ absetzten, blieb Laschet bei seiner Linie, dass die deutsche Bundespolizei in einem offenen Europa keine Hilfesuchenden mit dem Wasserwerfer vertreiben dürfe. Im NRW-Wahlkampf schien er 2017 sogar stolz darauf zu sein, dass man ihm nachsagte, lieber nicht in die Düsseldorfer Staatskanzlei gewählt zu werden, als sich mit Positionswechseln eines Markus Söder selbst verleugnen zu müssen.
Fairerweise sollte nicht unterschlagen werden, dass Laschet dieser Tage auch eine „Luftbrücke“ für Afghanistan gefordert hat. Er will neben deutschen Staatsbürgern ehemalige Ortskräfte der Bundeswehr und besonders gefährdete Frauen ausfliegen lassen und internationale Unterstützung der afghanischen Nachbarländer organisieren. Er hat also ausdrücklich keine „Schotten dicht“-Politik propagiert oder gar gefordert, dass Deutschland „keine“ Flüchtlinge aufnehmen soll.
Plötzlich klingt die AfD genauso
Doch Timing und Tenor seiner „2015“-Analogie sorgen dafür, dass plötzlich die AfD den gleichen Sound anstimmt: „2015 darf sich nicht wiederholen“, twitterte auch Alice Weidel. Nach 20 Jahren, in denen die Bundeswehr und Milliarden an Steuergeld am Hindukusch für das US-Projekt „nation building“ verheizt wurden, sollte Laschet mit der Aussicht auf neue europäische Initiativen in der Region besser vorsichtig sein. Während nicht einmal alle deutschen Staatsbürger im sicheren Militär-Airbus sitzen, wirkt es überdies taktlos, die Angst vor neuen Flüchtlingstrecks nach Deutschland zu schüren. „2015 darf sich nicht wiederholen“ ist eine hohle Phrase, die keine neuen Flüchtlingsbewegungen verhindern wird.
Profitieren kann die in Umfragen abschmierende Union gut fünf Wochen vor der Bundestagswahl von dem Afghanistan-Desaster vermutlich ohnehin nicht. Die fundamentalen Fehleinschätzungen gehen mit der GroKo nach Hause. Warnungen der deutschen Botschaft wurden ignoriert. Noch vor den Sommerferien wollte man die afghanischen Ortskräfte nicht aufnehmen und lehnte eine entsprechende Initiative der Grünen brüsk ab. Die offensive Abgrenzung von „2015“ macht es für die Union nur noch schlimmer.