Hagen. Der Großraum als mikrosoziologisches Experimentierfeld: In den Schränken lauern die Gespenster der Vergangenheit

Das Großraumbüro ist eine Stätte komplexer psychologischer und physikalischer Ereignisketten, ein Raumlabor sozusagen, das schwarze Loch der Mikrosoziologie. Denn jedes Großraumbüro enthält Schränke, in denen die Gespenster der Vergangenheit auf die Ahnungslosen lauern, welche als erste die Tür aufmachen und damit die gepflegte Ruhe der Lose-Blatt-Sammlung stören, mit der unser längst verrenteter Kollege P. der Digitalisierung getrotzt hat.

Nie erschien mir ein Ort heimeliger und schöner als unser kleiner Großraum neben dem Herrenklo nach fünf Wochen Corona-Homeoffice. Die teure Halle sehe ich nur wieder, weil die Maler anrücken, allerdings seuchentechnisch geboten in erhabener Einsamkeit. Der Arbeitsauftrag lautet: Mach die Schränke leer. Ja, Chef. Wird erledigt, Chef.

Doch ins Altpapier?

Kulturredakteure wissen alles über die Gespenster der Vergangenheit, deshalb betreiben sie das Ausmisten mit unerschrockener Akribie. Pressemitteilungen aus dem Jahr 1998 von Firmen, die es nicht mehr gibt? Ins Museum damit? Oder ins Altpapier? Manchmal muss man Schicksal spielen.

Da wir ein nachhaltiges Unternehmen sind, das mit Stolz alles Inventar solange rundtauscht, bis es zusammenbricht, erstaunt es kaum, wieviele geknickte Kabel, klemmende Tastaturen, Mäuse mit Ladehemmung etc. sich in den Schränken ungestört vermehren konnten, frei nach dem Motto: In der Zeit der Not kann man sogar Elektroschrott noch mal brauchen.

Nischenpopulation von Heiligenlexika

Doch unausweichlich, Tür für Tür, nähern wir uns dem Äußersten, dort, wo es weh tut, dem Kulturschrank. Hier hat sich augenscheinlich im Laufe vieler Jahrzehnte eine hübsche Nischenpopulation von Heiligenlexika entwickelt, insgesamt sieben Stück fallen mir in die Hände. Was macht man damit? Zum Wegwerfen sind sie eigentlich zu schade, aber den gesamten Inhalt all der Schwarten zusammen kann man heute mit einem Klick aus dem Internet holen.

Dazwischen tauchen Fundstücke auf. Eine längst vergriffene Karl-Ernst-Osthaus-Biographie. Ein Emil-Schumacher-Katalog, für den Sammler hohe Preise zahlen. Und, zerfleddert und nach hinten gerutscht: ein Exemplar meiner eigenen Doktorarbeit. Bin ich das? Ich hatte ja schon fast vergessen, dass ich sie jemals schrieb. Plötzlich wird der Schrank vom Angstort zur Wunderkammer.

Und was lehrt uns das? Kollege P. hat Recht, wieder mal. Wer zu viel zu früh wegwirft, der bringt sich selbst um jedes Schatzgräber-Glück.