Angesichts der Folgen für das Land kann sich die Politik bei der Frage nach dem Exit aus dem „Lockdown“ nicht in moralischen Rigorismus flüchten.
Vor nicht einmal zwei Wochen habe ich an dieser Stelle geschrieben: „Wir müssen Szenen wie in Italien, wo sie alte Leute alleine in Zelten sterben lassen, vermeiden – koste es, was es wolle.“ Der Satz kam von Herzen. Doch mit etwas Abstand und im Lichte neuer, bitterer Erkenntnisse betrachtet, würde ich das heute so nicht mehr formulieren. Koste es, was es wolle? Die richtigen Worte wären: Wir müssen alles in unserer Kraft Stehende tun. Daran aber schließt sich die Frage an: Was steht in unserer Kraft?
Welche Güter wollen wir abwägen?
Bevor wir jedoch diese Frage diskutieren, ist vorab zu klären, ob man eine solche Frage überhaupt stellen darf. Denn der wohl schönste und reinste je in ein Gesetz gegossene Satz lautet ja: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Diese in Artikel 1 des Grundgesetzes be- und vorgeschriebene Selbstzwecklichkeit des Menschen verbietet es geradezu, über den Preis zu sprechen, den wir alle bereit wären zu bezahlen, um italienische Zustände zu vermeiden, um Menschenleben zu retten. Also doch: Koste es, was es wolle?
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So einfach ist es leider nicht. Es wäre sogar unverantwortlich, auf gesinnungsethischen Positionen zu beharren und nicht einmal eine Debatte darüber zuzulassen, welche Güter hier gegeneinander abzuwägen sind. Dazu muss man sich einmal klar machen, was die mittel- und langfristigen Folgen eines wirtschaftlichen Niedergangs wären.
Die Wirtschaft ist nicht abstrakt - es geht um Existenzen
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Die Wirtschaft, die Konjunktur, die Unternehmen – dahinter stecken nicht nur abstrakte Zahlen. All dies beschreibt unsere Existenz-, unsere Lebensgrundlage. Sollte der jetzige Zustand des teilweisen „Lockdowns“ über viele Monate anhalten, ist infolge einer Pleiten- und Arbeitslosenwelle mit heftigen sozialen Verwerfungen zu rechnen, die die Schwächsten in unserer Gesellschaft mit voller Wucht treffen werden. Da ist weit mehr in Gefahr als unser zuweilen nach Luxus schmeckender „Wohlstand“. Zu Ende gedacht, geht es um unsere gesellschaftliche Ordnung insgesamt. Wo stünden wir mit unserem politischen System in einer Zeit nach der Krise, wenn Populisten infolge des wirtschaftlichen Schocks die Oberhand gewinnen würden?
Die Frage nach der Exitstrategie ist berechtigt, und die Politik muss sie beantworten
Ob wir wollen oder nicht: Wir müssen jetzt solche Debatten führen, die ans Eingemachte gehen. Die Frage nach der Exitstrategie, am Wochenende von NRW-Ministerpräsident Laschet zurecht vehement gestellt, zeigt, was Politik leisten muss – eine Politik übrigens, die bislang einen sehr guten Job macht. Es ist völlig richtig, dass verantwortungsbewusste Politiker etwa auf namhafte Virologen hören. Aber sie dürfen ihnen nicht hörig werden.
Politik ist in diesen Zeiten mehr denn je die Kunst des Machbaren. Es geht um die richtige Balance, die die Katastrophe eines überlasteten Gesundheitssystems einerseits abwehrt und das Land dabei nicht zugleich in eine Depression mit unabsehbaren Risiken stürzt. Das sieht verdammt nach der Quadratur des Kreises aus. Aber ihr mit einem Koste-es-was-es-Wolle aus dem Weg zu gehen, die Frage nach dem Preis als unanständig oder gar unethisch abwürgen zu wollen, das geht nicht. (Nebenbei: Müssten jene, die solche Abwägungen ablehnen, nicht auch das Auto verbieten? Der Preis für unsere Mobilität sind tausende Verkehrstote Jahr für Jahr ...)
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Es geht darum, Leben zu retten, und es geht zugleich um das Glück einer ganzen Nation in den nächsten Jahren und Jahrzehnten. Damit es nach der Pandemie nicht heißt: Operation gelungen, Patient tot.