Ist Erdogan am Ziel? Machtpolitisch gibt es frappierende Ähnlichkeiten mit Atatürk: in der Brutalität etwa, politische Gegner auszuschalten.

Ist Erdogan am Ziel? Ist er nun, in der Nachfolge des übergroßen Mustafa Kemal Atatürk, der neue „Vater der Türken“? Machtpolitisch gibt es frappierende Ähnlichkeiten: in der Brutalität etwa, politische Gegner auszuschalten. Davon abgesehen tritt Erdogan das Erbe Atatürks systematisch mit Füßen. Die Verwestlichung der Türkei, die Hinwendung zu Europa und vor allem die Säkularisierung des Landes, die Trennung von Glaube und Macht also – das alles wird Schritt für Schritt zurückgedreht. Der Sonntag war ein schwarzer Tag für die Türkei.

Alexander Marinos . Foto: Jakob Studnar / fotopool
Alexander Marinos . Foto: Jakob Studnar / fotopool

Wer dagegen eher halb volle denn halb leere Gläser sieht, muss auf die 49 Prozent Nein-Sager in der Türkei verweisen. Jeder Zweite hat sich Erdogan verweigert. Das kann man angesichts des massiven politischen Drucks, den das Regierungslager über Monate hinweg auf die Bevölkerung ausgeübt hatte, auch als eine krachende Niederlage für den Autokraten werten.

Mehr als 100 Journalisten inhaftiert

Was hat dieser Erdogan nicht alles getan, um die Wahl zu gewinnen? Man muss sich gar nicht lange mit der Frage aufhalten, ob die Abstimmung selbst manipuliert war oder nicht. Weit schwerer wiegt, dass fast alle regierungskritischen Medien in den vergangenen Monaten mundtot gemacht wurden, dass mehr als 100 Journalisten in den Gefängnissen sitzen, darunter der Deutsch-Türke Deniz Yücel. Wer sich offen gegen Erdogan stellte, galt und gilt als Terrorist. Nun muss sich das AKP-Regime fragen lassen, ob eigentlich die Hälfte des eigenen Volkes aus Terroristen besteht.

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Der Preis für Erdogans Pyrrhussieg ist hoch, und Europa mit Deutschland an der Spitze sollten an der Preisspirale ruhig noch etwas drehen. Das Argument, Sanktionen gegen die Türkei würden Erdogan im Wahlkampf helfen, verfängt nun nicht mehr. Das Thema EU-Beitrittsgespräche, schon lange eine Farce, muss beendet werden. Schluss mit jeglichen Zugeständnissen und finanziellen Beihilfen! Stattdessen sollten die Europäer die Erdogan-Gegner – auch und vor allem mit Blick auf die Präsidentschaftswahlen Ende 2019 – in und außerhalb der Türkei nach Kräften unterstützen.

Waren die Türkeistämmigen in Deutschland das Zünglein an der Waage?

Ausgesprochen betrüblich stimmt derweil das Abstimmungsverhalten der Türkeistämmigen in Deutschland. Womöglich waren sie das Zünglein an der Waage. Zwei von drei haben für die Verfassungsreform gestimmt. Noch schlimmer sieht es im Ruhrgebiet aus. Hier ist das Glas, da hilft auch penetranter Optimismus nichts, zu drei Viertel leer. Satte 75 Prozent der der Türken im Revier haben „Ja“ gesagt. In Gelsenkirchen etwa meinten einige Ja-Sager, noch am Abend des Ostersonntags mit Türkei-Fahnen hupend durch die Innenstadt fahren zu müssen, um ihren vermeintlichen Sieg zu feiern.

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Das stimmt traurig und macht wütend. Selbst jene wohlmeinenden Linken, die man sonst auf jedem Multi-Kulti-Fest treffen kann, ließen ihrer enttäuschten Liebe in den angeblich sozialen Netzwerken freien Lauf und forderten die Erdogan-Wähler auf, Deutschland zu verlassen. Ausländer raus? Ernsthaft? Darauf hatten bislang die Rechtsradikalen das Monopol.

Integrationsversagen ist im Kern ein Bildungsversagen

Vielleicht hilft ja der Gedanke, dass die allermeisten hupenden Erdogan-Freunde nicht einmal ansatzweise wissen, worum es bei der Abstimmung eigentlich ging. Wir haben uns einem Integrationsversagen auf breiter Front zu stellen, das im Kern ein Bildungsversagen ist. So lange die soziale und/oder ethnische Herkunft weiter entscheidend für den schulischen Erfolg unserer Kinder ist, kommen wir auch bei der Integration keinen Zentimeter weiter.