Witten. Ahmad Zahir ist aus Afghanistan geflohen. Heute betreibt er einen Kiosk in Witten. Was der 61-Jährige über die Lage in seinem Heimatland denkt.
Ahmad Zahir und seine Frau Floran haben einen Anruf von ihrer Tochter bekommen, die in Bochum studiert. Sie hat sich bei ihren Eltern bedankt, in Deutschland geboren und aufgewachsen zu sein. Die Nachrichten und Bilder aus Afghanistan, dem Heimatland von Ahmad und Floran Zahir, haben die 23-jährige Studentin erschüttert. Auch ihre Eltern, die an der Crengeldanzstraße seit 20 Jahren einen Kiosk betreiben, sind in Gedanken und mit ihren Herzen in ihrer früheren Heimat, in der die Taliban die Macht übernommen haben.
Ahmad Zahir sitzt auf der Terrasse seines Kiosks und erzählt. Er hatte gerade das Abitur gemacht, als im Dezember 1979 Sowjetsoldaten in Afghanistan einmarschierten. Zahirs Mutter leitete eine Schule, der Vater und der Großvater waren Rektoren der Universität in Afghanistans Hauptstadt Kabul, sagt er. „Alle Männer ab 18 Jahren sollten damals gegen die Russen in den Krieg ziehen.“ Was er nicht gewollt habe. Mit sechs Freunden floh der junge Afghane nach Pakistan. „Drei sind angekommen, die anderen haben auf der Flucht ihr Leben verloren.“
2020 hat Ahmad Zahir einen afghanischen Kulturverein in Witten gegründet
Mit Hilfe eines Schleusers kam Ahmad Zahir nach Frankfurt, „wo bereits einer meiner Brüder lebte“. Deutschland habe sein Asylbegehren sehr schnell anerkannt, sagt der 61-Jährige dankbar. Seit 1992 ist er deutscher Staatsbürger. Zahir lebte mehrere Jahre in München, war bei Siemens in der Qualitätskontrolle beschäftigt. Die Stelle kündigte er, „weil ich eine Ausbildung machen wollte“.
Er wurde Elektriker. „Schließlich bot mir ein Bekannter eine Vier-Zimmer-Wohnung in Bochum an.“ Der Familienvater, der stolz von seinen fünf Töchtern erzählt, zog ins Ruhrgebiet. Zu seinem Ladenlokal an der Crengeldanzstraße kam er, als er dort als Elektriker arbeitete. „Der Hauseigentümer hat mich überredet, den Kiosk zu übernehmen.“
Das ist 20 Jahre her. Ohne die Hilfe seiner Frau Floran wäre die berufliche Selbstständigkeit nicht gelungen, betont er. „Sie hat schon damals mitgearbeitet, sogar die kleinen Kinder mit in den Laden genommen.“ Im vergangenen Jahr hat Ahmad Zahir einen afghanischen Kulturverein in Witten gegründet, der ein Anlaufpunkt für Flüchtlinge sein sollte. Beim Bildungsverein Lernimpuls organisierte er Alphabetisierungskurse, auch Nähkurse für afghanische Frauen. Im März, nach nur drei Monaten, stellte der Kulturverein die Arbeit ein. „Es gab zu viele Streitigkeiten“, sagt der Gründer, der dies sehr bedauert. „Ich wollte, dass die Menschen dort auch zusammen feiern, dass man gemeinsam Schwierigkeiten bespricht.“
Schon 1996 übernahmen die Taliban die Macht in Kabul
Ahmad Zahir hat keine Verwandten mehr in Afghanistan. Seine Eltern sind tot, seine Geschwister leben in den USA, Holland, Belgien und Österreich. Seine Frau Floran erzählt, dass sie noch einen Onkel und eine Tante in ihrem Heimatland hat. „Sie sagen, es sei alles in Ordnung.“ Aber wenn die 48-Jährige Nachrichten sieht, macht sie sich große Sorgen. „Mein Schwager sitzt in Kabul fest.“
Die Mutter von fünf Töchtern, darunter eine angehende Juristin und eine Biomedizinerin, sorgt sich auch sehr um Afghanistans Frauen unter der Herrschaft der Taliban. Floran Zahir zeigt ein Motiv, das sie auf Facebook gefunden hat. Zu sehen ist eine Frau, die mundtot gemacht wird. Vor ihrem Kopf steht als kleine Figur ein Taliban-Kämpfer. Ahmad Zahir nickt. „Die Taliban wollen die Scharia einführen. Da werden Frauen und Mädchen keine Rechte mehr haben.“
Der Westen, vor allem Amerikaner, Engländer und Franzosen, hätten nach dem Einmarsch der Sowjetsoldaten in Afghanistan 1979 die Freiheitskämpfer, die Mudschahidin, mit Waffen, Geld und Logistik unterstützt, sagt Zahir. 1989 seien die Russen abgezogen. Da habe auch der Westen sein Land fallen lassen. „Die Folge war ein Bürgerkrieg.“ Parteien, die vorher gemeinsam gegen die Russen gekämpft hätten, hätten dann gegeneinander um die Macht gekämpft. „Daraufhin entstand die Taliban-Bewegung.“ 1996 marschierten die Taliban in Kabul ein - und übernahmen dort die Macht. Ahmad Zahir: „Eine Schreckensherrschaft wurde etabliert, Gegner geköpft.“
Korruption ließ viele Hilfsgelder in falsche Kanäle fließen
Als Reaktion auf die Terroranschläge vom 11. September 2001 in New York und Washington griffen die USA und ihre Verbündeten im Oktober 2001 Afghanistan an. Der Hintergrund: Die islamistische Taliban-Regierung Afghanistans unterstützte die für die Terroranschläge verantwortliche Terrorgruppe Al-Qaida. Nach dem Einmarsch sei eine Interimsregierung mit dem afghanischen Präsidenten Karsai installiert worden, so Zahir. Karsai wurde 2004 von einer Mehrheit der Bevölkerung mit über 55 Prozent der Stimmen zum Präsidenten gewählt. Zu diesem Zeitpunkt, meint Zahir, hätten die westlichen Truppen das Land wieder verlassen sollen.
Gebürtiger Afghane bedankt sich für Engagement
Nach einem 20-jährigen Einsatz hat die Bundeswehr Afghanistan in diesem Jahr verlassen. Ende Juni wurden die letzten deutschen Soldaten ausgeflogen. 59 Bundeswehrsoldaten sind in der gesamten Einsatzzeit gefallen oder bei Unfällen gestorben.Was dem gebürtigen Afghanen Ahmad Zahir wichtig ist: „Ich möchte mich bei der deutschen Bevölkerung für dieses Engagement bedanken.“ Auch mehrere hundert deutsche zivile Entwicklungshelferinnen und -helfer, Polizistinnen und Polizisten sowie Diplomatinnen und Diplomaten hatten den politischen, institutionellen und wirtschaftlichen Wiederaufbau in Afghanistan unterstützt.
Der Westen sei gescheitert an einem korrupten System rund um den Präsidenten Aschraf Ghani, der jetzt vor den Taliban ins Ausland flüchtete. Der Großteil der Afghanen sei arm. „Es gibt dort nur Arme und wenige Reiche.“ Aufgrund der Korruption seien viele Unterstützungsgelder für das Land - auch aus Deutschland - nicht dort angekommen, wofür sie gedacht waren. „Aber niemand hat nachgefragt, was mit den Hilfsgeldern passiert ist.“ Ahmad Zahir macht sich Gedanken darüber, dass viele gebildete Afghanen das Land verlassen werden. Übrig blieben dann die, „die nur die Koranschule kennen, die nicht schreiben und nicht lesen können“. Dann hätten die Taliban ein leichtes Spiel. Der 61-Jährige hofft, dass es nicht so kommt. „Fest steht: Afghanistans Zukunft ist sehr ungewiss.“