Witten. Eine Dozentin des Waldorf-Instituts in Witten verbreitet in einer Chat-Gruppe Verschwörungstheorien und leugnet die Gefahren durch Corona.
Immer wieder gehen in ganz Deutschland Corona-Leugner auf die Straße und demonstrieren gegen die aktuellen Schutzmaßnahmen und Einschränkungen im Zuge der Pandemie. In Witten ist der Protest auf der Straße bislang sehr klein ausgefallen. Seit Anfang August gibt es allerdings eine öffentliche Chatgruppe im Nachrichtendienst Telegram, initiiert von einer Mitarbeiterin des hiesigen Waldorf-Instituts in Annen – dort wird massiv Stimmung gegen den Staat und die Corona-Maßnahmen gemacht.
Mittlerweile 480 Mitglieder tummeln sich in der Gruppe „Waldorfpädagog*innen für Aufklärung“. Geteilt werden unter anderem Videos von „Querdenken“-Demonstrationen. Die Initiatorin, die auf dem Annener Berg künftige Waldorf-Lehrer ausbildet, hat selbst unter anderem an der Anti-Corona-Demonstration in Berlin Ende August teilgenommen, die mit der Besetzung der Treppe des Reichstags durch Rechtsextreme endete. Die Anthroposophin kritisiert im Kanal die Berichterstattung der Medien über die Ereignisse in Berlin, weil diese die „neue Bewegung für Frieden, Freiheit, Wahrheit und Liebe“ in die rechte Ecke drängen wollten.
Viele bekannte Corona-Leugner kommen im Chat-Kanal der Wittener Waldorf-Ausbilderin zu Wort
Wie die Gruppe – und ihre Gründerin – tickt, erahnt man, wenn man sich ansieht, welche Inhalte dort verbreitet und toleriert werden. Zu Wort kommen hier so gut wie alle bekannten Corona-Leugner oder -Kritiker. Etwa der HNO-Arzt Bodo Schiffmann, der in Interviews bereits mehrfach die Corona-Maßnahmen mit dem Ermächtigungsgesetz Adolf Hitlers verglichen hat. Oder auch Sucharit Bhakdi, ein Facharzt für Mikrobiologie, der in Youtube-Videos seit Beginn der Pandemie behauptet, das Virus stelle keine Gefahr dar, die Maßnahmen seien „sinnlos und selbstzerstörerisch“.
Auch werden Beitrage der Webseite „KenFM“ geteilt. Betrieben wird diese von Ken Jebsen, einem der bekanntesten Verschwörungstheoretiker Deutschlands. Er behauptet etwa, dass Bill Gates Politik, Medien und Forschung in Deutschland kontrollieren würde. Die Waldorf-Pädagogin verweist auch auf die „Ärzte für Aufklärung“, die Blanko-Atteste zur Befreiung vom Mund-Nasen-Schutz ausstellen, oder verlinkt ein Video von Robert F. Kennedy Jr., der bei der Corona-Demo in Berlin davon sprach, dass die Regierung die Pandemie ausnutzen würde, um die Bevölkerung zu kontrollieren und gefügig zu machen.
Ein Gedicht zum 75. Todestag Hitlers
Das wohl irritierendste Fundstück in dem umfangreichen Chatverlauf ist ein Gedicht über die Maskenpflicht. Darin ist von „Maulkörben“ und der Abschaffung des „freien Geistes“ die Rede. Unterschrieben ist das Gedicht mit dem Namen des Verfassers und dem Verweis darauf, dass es entstanden sei an „Hitlers 75. Todestag“.
Die Wittener Anthroposophin teilt über den Kanal aber auch zahlreiche eigene Schriften. Die Corona-Schutzverordnung führe zu „Zwängen und Unfreiheiten, wie wir sie in der Bundesrepublik Deutschland seit 75 Jahren nicht mehr erlebt haben“, heißt es unter anderem. Oder: „Sicherlich können uns die äußeren Kräfte zur Unfreiheit verdammen [...]. Aber unseren Geist, den können sie nicht knechten [...].“ Im August hat sie selbst zudem einen Offenen Brief an Bildungsministerin Gebauer mitverfasst, in dem das Ende der Maskenpflicht an Schulen gefordert wurde.
Experte für die Anthro-Szene: „Reden sich in Rage gegen angeblich unfreie Gesellschaft“
Für Oliver Rautenberg, der die anthroposophische Szene als Blogger kritisch begleitet, steht die von der Wittener Waldorf-Ausbilderin gegründete Gruppe exemplarisch für die Denkweise, die bei vielen Anhängern der Lehren Rudolf Steiners verbreitet ist. Der Ansatz sei dabei stets gleich: Die Corona-Pandemie sei gefaked, sprich vorgetäuscht. Die Staatsmedien würden dabei mitspielen. „Sie reden sich in Rage gegen eine angeblich unfreie Gesellschaft“, so der 46-Jährige.
Die Bewegung sei „sehr tolerant den Rechten gegenüber“, so der Experte. Eben weil man derzeit die gleichen Ziele verfolge. Für Rautenberg ist es eine „unselige Mischung“, die auf den Anti-Corona-Demonstrationen zusammenkommt.
Mit besonderer Sorge beobachtet der Blogger die wachsende „Vehemenz, mit der gegen den ‘bösen’ Staat, Presse und Wissenschaft argumentiert wird.“ Bedenklich sei auch, dass gerade Waldorf-Ausbilder solche Positionen verbreiten. Schließlich haben diese Einfluss auf die kommende Generation von Waldorf-Lehrern.
Waldorf-Lehrerin distanziert sich von rechtspopulistischen und diskriminierenden Positionen
Die Pädagogin selbst verteidigt ihren Kanal. In keinem einzigen Beitrag würde Corona geleugnet. „Richtig ist, dass es Beiträge von Wissenschaftlern, Ärzten u.a. gibt, die sich kritisch zum Umgang mit der Corona-Pandemie äußern“, so die Lehrerin auf Nachfrage unserer Redaktion. „Ich distanziere mich ausdrücklich von rechtspopulistischen und diskriminierenden Positionen.“
Als Ausbilderin nehme sie „die aktuelle Situation zum Anlass, um mit den Studierenden daran zu arbeiten, wie gesellschaftliche Fragen auch in einer so polarisierten Situation wie der Gegenwart mit ihren künftigen SchülerInnen im Interesse ihrer selbstständigen Urteilsbildung bearbeitet werden könnten.“
Und was sagt der Vorstand des Waldorf-Instituts? Selbstverständlich halte man im Institutsbetrieb die geltenden Verordnungen und Gesetze ein, heißt es in einer Stellungnahme. „Es geht hier ja überhaupt nicht um eine Meinung des Instituts“, so Geschäftsführer Dr. Dietrich Voigt. Man habe es vielmehr „mit einer Kontroverse zu tun, die die ganze Gesellschaft bis hinein in die Familien spaltet“. Veröffentlichungen und Äußerungen von Mitarbeitern außerhalb des betrieblichen Zusammenhanges würden diese selbst verantworten. Das Institut selbst vertrete keine bestimmte Meinung.
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