Neviges. „Wir hatten nichts. Und doch so viel“: Zwei Seniorinnen und ein Senior aus Velbert erzählen vom ersten Fest nach dem Zweiten Weltkrieg

Frieden als größtes Geschenk, das wünschen sich die Menschen in der Ukraine sehnlichst. Nach Putins Angriffskrieg erleben sie bereits das dritte Weihnachtsfest im Krieg. Dass Frieden nicht selbstverständlich ist, weiß niemand besser als die Generation, die den Zweiten Weltkrieg überlebt hat. Das erste Fest im Frieden, Heiligabend 1945, ist auch für zwei Seniorinnen und einen Senior aus Velbert unvergesslich. „Wir hatten nichts. Und doch so viel“, sagt Elfriede Schuster (90) lächelnd. Eben ein Geschenk, das wertvoller nicht sein kann.

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 Elfriede Schuster (90) kann sich noch gut an ihr Puppenhaus erinnern.
Elfriede Schuster (90) kann sich noch gut an ihr Puppenhaus erinnern. © FUNKE Foto Services | Uwe Möller

„Wir wohnten damals in der Elberfelder Straße. Einen Weihnachtsbaum? Nein, ich glaube, den hatten wir nicht“, sagt Elfriede Schuster, die damals elf Jahre alt war. Sie überlegt scharf, und dann sprudelt es aus der Seniorin nur so heraus: „Aber ich weiß noch, ich hatte mir damals eine Puppenstube gewünscht, die wollte ich so gerne haben.“ Ihr Vater, so erzählt die Velberterin weiter, habe ihr auch tatsächlich eine gebaut. „Die Stube war aber noch nicht ganz fertig. Ich durfte die noch nicht so richtig haben.“

Das Puppenhaus in Velbert war einen Tag später fertig

Siegfried Gast erinnert sich: „Es heulten keine Sirenen mehr, man musste nicht mehr in den Keller.“
Siegfried Gast erinnert sich: „Es heulten keine Sirenen mehr, man musste nicht mehr in den Keller.“ © FUNKE Foto Services | Uwe Möller

Der große Moment sei dann einen Tag später gekommen, als Onkel und Tante aus Düsseldorf anrückten. „Ich musste raus mit den anderen, es war furchtbar kalt. Und als ich wieder kam, stand da das Puppenhaus, alles war fertig, auch die Stube. Das war eine Freude...“ Ein Strahlen geht über ihr Gesicht, gern denkt Elfriede Schuster auch an ihren Beruf. „Ich war Schneiderin, habe danach viele Jahre bei einem Kürschner gearbeitet, das habe ich sehr gern gemacht.“ Seit gut einem Jahr besucht sie zweimal in der Woche die Tagespflege Nitz, „Montag in Tönisheide und Donnerstag in Neviges, ist ganz prima hier“.

Wohltuend: Es heulten keine Sirenen mehr

Wenn Siegfried Gast an Weihnachten 1945 denkt, dann fällt dem fitten 90-Jährigen als Erstes ein: „Es heulten keine Sirenen mehr. Diese Ruhe, ja, es war ruhig draußen. Und die Kirchen waren voll.“ Siegfried Gast wurde zwar in Duisburg-Rheinhausen geboren, fühlt sich aber durch und durch als Nevigeser. Der gelernte Elektrotechniker, damals beschäftigt bei Mauell in Neviges und später bei AEG in Essen, engagiert sich in der evangelisch-reformierten Kirchengemeinde, war hier unter anderem zweimal Presbyter. In Neviges lebt die Familie seit 1954, das erste Fest im Frieden hat der elfjährige Siegfried daher in einer anderen Stadt erlebt, nämlich in Dortmund, genau gesagt im westlichen Vorort Marten: „Eine Oma und ein Onkel wohnten dort, da sind wir nach Kriegsende vorübergehend hingezogen. Während des Krieges waren wir im Siegerland, denn Rheinhausen wurde ja stark bombardiert wegen Krupp, da kam ordentlich was herunter.“

Töttern an langer Tafel: Das Foto zeigt eine Weihnachtsfeier in Neviges in der Nachkriegszeit.
Töttern an langer Tafel: Das Foto zeigt eine Weihnachtsfeier in Neviges in der Nachkriegszeit. © Elmar Zielke | Elmar Zielke/Repro

Was Siegfried Gast mit am stärksten in Erinnerung ist von diesem Heiligabend: „Man musste nicht mehr in den Keller oder Luftschutzbunker flüchten. Es war ruhig draußen, man brauchte keine Angst zu haben.“ Gemütlich sei es damals gewesen, zwar kein Weihnachtsbaum, aber dafür jede Menge „Familienprogramm“, direkt nach der Kirche. „Wir Kinder sagten Gedichte auf, ich habe ja noch eine Schwester. Und es wurden viele Weihnachtslieder gesungen.“ Das Festmahl bestand „aus irgend etwas aus Steckrüben, gekocht oder gebraten, Kartoffeln gab es ja nicht.“

Vor dem Fest verschwand Spielzeug

Und auch kein Geld, um Geschenke zu kaufen, aber dafür waren die Eltern Gast umso erfinderischer: „Neue Spielsachen gab es nicht, die alten wurden eingepackt. Manchmal, wenn es sich anbot, repariert“, erzählt Siegfried Gast, der mit seiner Ehefrau in einer ruhigen Wohngegend in Neviges lebt. Bis heute ist unvergessen, wie er damals vor Weihnachten etwas vermisst hatte: „Damals hatte ich eine Märklin-Eisenbahn. Und auf einmal waren da ein paar Wagen weg, ich hatte mich gewundert, die waren auch nirgendwo zu finden.“ Umso größer war dann die Freude, als die vermissten Wagen bunt eingepackt auf dem kleinen Gabentisch lagen. „Wir saßen Heiligabend in der Küche, die auch Esszimmer war. Geheizt wurde mit Kohlen, die waren ja knapp, und die Kücher war der wärmste Ort“

Kohlen vom Güterwagen stibitzt

Ja, Kohlen waren knapp, und die Not machte erfinderisch: „In der Nähe war eine Bahnlinie, da fuhren auch viele Güterzüge, die Kohlen geladen hatten. An den Übergängen wartete man drauf, dass der Wagen hielt, kletterte auf den Wagen und holte sich etwas zum Heizen“, erinnert sich Siegfried Gast. Wie die Familie dann Anfang der 50er Jahre ausgerechnet nach Neviges kam? „Mein Vater bekam hier eine Stelle, er leitete das Jungarbeiter-Heim.“ Damals gelegen an der Emil-Schniewind-Straße, dort ist jetzt das Seniorenheim Domizil Burgfeld, seit zwei Jahren das Zuhause von Erna Brebeck (93).

Die Brüder kamen gerade aus der Gefangenschaft

„Was wollen Sie wissen? Was ich weiß, das erzähle ich Ihnen“, sagt die muntere Seniorin, dabei blitzen ihren Augen voller Unternehmungslust. In Neviges ist Erna Brebeck vielen bekannt, weil sie unter anderem mit Ehemann Rudi viele Jahre den damaligen Jahn-Sportplatz in Schuss hielt. „Der war immer top.“ Weihnachten 1945, da lebte die Familie in Velbert-Rützhausen. „Die Zeit war ja sehr arm, aber doch, ja, ich meine, wir hatten einen Weihnachtsbaum.“ Und ein wunderbares Geschenk: „Meine Brüder kamen gerade aus der Gefangenschaft nach Hause, ich bin ja die jüngste von fünf Kindern, ich bin als letzte übrig geblieben.“ Was Erna Brebeck wichtig ist: „Wir hatten ein sehr gutes Familienleben, eine Traum-Mutter. Die hat vieles möglich gemacht.“

Neue Pullover und Röcke zu Weihnachten, „alles selbst gestrickt. Und Spritzgebäck hat sie gebacken, es gab ja nichts in den Läden.“ Aber dafür Heiligabend Fleisch, da ist sich Erna Brebeck sicher. „Mein Vater hatte zwei Schweine im Stall, deshalb sind wir ja damals extra umgezogen. Eins wurde bestimmt geschlachtet, ich kann mich noch an Blutwurst erinnern. Allerdings nicht, ob es die gerade zu Weihnachten gab.“ Und dann war da noch die ältere Schwester, die im Großhandel „Tabak und Süßwaren“ beschäftigt war, wie die Seniorin erzählt: „Da gab es auch für uns etwas Süßes. Ach, Weihnachten, man war arm. Aber es war wunderschön.“