Oberhausen. Die Schüler des ersten G8-Jahrgangs feiern ihren Abschluss. Im Gespräch ziehen Beteiligte ein Fazit.
Heute Abend ist es soweit: Die ersten Schüler des Bertha-von-Suttner-Gymnasiums, die das Abitur nach 12 Jahren absolviert haben, bekommen ihre Abschlusszeugnisse überreicht. 150 Schüler waren im Schuljahr 2005/2006 ans Bertha gekommen, um nach dem verkürzten achtjährigen Gymnasium (kurz G8) die Hochschulreife zu erlangen. Nicht alle haben es bis zum Ende geschafft. „Ein großer Teil, etwa ein Drittel, hat sich für einen anderen Bildungsweg oder eine Ausbildung entschieden“, so Schulleiter Michael von Tettau.
97 Jugendliche haben die Abiprüfungen aber schlussendlich erfolgreich absolviert, drei Schüler haben diese letzte Hürde nicht überwunden. Zum Vergleich: Beim Abitur nach 13 Schuljahren gibt es 95 Absolventen, ein Schüler hat die Abschlussprüfungen nicht bestanden.
"Nicht nur auf Notendurchschnitt schauen"
„Man darf auf jeden Fall nicht den Fehler machen, nur auf den Notendurchschnitt der Abiturienten zu schauen“, so von Tettau. „Vielmehr sollte man auch auf die Klassen Fünf bis Elf ein Auge haben.“ Der Schulleiter glaubt nämlich, dass die Schulzeitverkürzung gerade zu Lasten der schwächeren Schüler geht. „Unsere Aufgabe ist es nicht, ausschließlich die Besten zu fördern.“ Gerade bei Schülern, die zu Hause keine oder nur geringe Unterstützung erfahren, gebe es oft Probleme.
Wie fällt nun das Fazit der Beteiligten nach dem ersten G8-Jahrgang aus? Waren Schüler Versuchskaninchen? Wie fühlen sie sich auf ihre weitere Karriere vorbereitet?
Wir suchten das Gespräch mit Schülern, Lehrern und Eltern. Dabei kamen Themen wie ständiger Leistungsdruck, die Studienplatzsituation an den Universitäten und hohe Stoffverdichtung auf den Tisch.
Das sagen die Schüler
2005 begann für Ursa-Tea Tepsic (18) und Philip Aicher (17) das Abenteuer G8. Nun, nach nur acht Jahren am Gymnasium, haben sie es geschafft, glücklich werden sie heute Abend ihre Abizeugnisse in den Händen halten. Der Weg dahin ist aber nicht stressfrei geblieben, wie die Beiden berichten können.
Die erste große Schwierigkeit hätte es bereits in der sechsten Klasse gegeben. „Viele Mitschüler hatten damals Probleme, als die zweite Fremdsprache dazu kam“, so Ursa-Tea Tepsic. „Ich hatte zwar selbst ab der dritten Klasse Englisch, aber in der sechsten Klasse war man auch damit noch sehr beschäftigt.“ Die zweite Fremdsprache, die vor der Laufzeitverkürzung erst in der siebten Klasse dazukam, habe für sehr viel Verwirrung gesorgt. „Gerade was die Grammatik anbelangt, ist man öfter durcheinander gekommen.“
Philip ging das ähnlich. „Ich habe Latein gewählt. Direkt in der zweiten Stunde wurde die erste Lektion angefangen, eine richtige Einführung gab es nicht.“ Generell sei in vielen Fällen und Fächern zu viel Stoff in zu kurzer Zeit durchgenommen worden. „In Mathe empfand ich das als besonders schlimm“, so Ursa. Philip ging das vor allem in der Physik so.
Das hat mitunter auch zu Spannungen zwischen Lehrern und Schülern gesorgt, wie Ursa aus ihrem Mathe-Kurs berichten kann. „In der letzten Schulwoche in der neunten Klasse haben wir drei komplett neue Themen durchgenommen.“ Insgesamt gesehen, und da sind sich die beiden in der Bewertung einig, habe es zu wenig Zeit für eine ausführliche Auseinandersetzung mit den Unterrichtsthemen gegeben. „Das hat wirklich gefehlt“, findet Philip.
Für Abitur nach 13 Jahren entscheiden
Wenn er die Wahl hätte, würde er sich auch deswegen für das Abitur nach 13 Jahren entscheiden. „Man hat einfach mehr Zeit für den Stoff und Gelegenheit, sich selbst zu entwickeln.“ Ursa bevorzugt trotz der Schwierigkeiten die G8-Variante. „Ich würde mich wieder dafür entscheiden.“ Auch wenn das Privatleben unter dem Stress gelitten hat. „Früher hatte ich vier Mal in der Woche Tanztraining. Das musste ich leider aufgeben.“
Während bei Philip die nähere Zukunftsplanung bereits feststeht, im September beginnt er eine Ausbildung bei der Bundespolizei, wartet Ursa noch auf Antwort der Universitäten. „Ich weiß wirklich nicht, was ich machen soll, wenn ich keine Zusage für Jura bekomme.“
Das sagen die Lehrer
Michael von Tettau, Schulleiter des „Bertha“ sowie Deutsch- und Politiklehrer, sieht beim Abitur nach 12 Jahren noch sehr viel Verbesserungsbedarf und spricht bei der bisherigen Umsetzung von Flickschusterei. „So wie das Konstrukt derzeit ist, stehe ich nicht hinter G8.“ Er sieht drei große Problemfelder.
Ein Fehler im G8-Modell sei etwa, in der Mittelstufe eine Klasse zu streichen. „Ich würde anstatt der zehnten Klasse lieber die elfte Klasse wegfallen lassen.“ So könnte der Klassenverband ein Jahr länger zusammenbleiben, zudem gäbe es für mehr Schüler die Möglichkeit, nach der zehnten Klasse die mittlere Reife zu erlangen.
Die Universitäten sieht er schlecht vorbereitet auf den doppelten Abiturjahrgang. „Es wird uns noch wundern, wie viele Abiturienten abgewiesen werden.“ Von Tettau spricht darum von Zynismus und sieht Äußerungen von NRW-Schulministerin Löhrmann kritisch, wonach alle Schüler einen Studienplatz finden würden.
Problem der Stoffverdichtung
Der Schulleiter sieht außerdem das Problem der Stoffverdichtung. „Bildung sehe ich nicht nur als reine Ausbildung, sondern als Allgemeinbildung. Es geht darum, dass die Schüler mündige Bürger werden.“ Die Jugendlichen werden seiner Ansicht nach zu sehr darauf gepolt, einfach ein Fach zu bestehen. Die Auseinandersetzung mit dem Unterrichtsstoff und das Hinterfragen würde zu kurz kommen.
Beratungslehrerin Katrin Lübke, die zudem Englisch und Russisch unterrichtet, kann diesen Punkt bestätigen. „In Englisch merkte man in vielen Situationen, dass die Schüler noch ein Jahr zu jung sind. Das wurde gerade in Diskussionen auffällig, wenn es darum ging, die eigene Meinung zu äußern.“
In Beratungsgesprächen habe sie zudem immer wieder erfahren, welcher Druck auf den Schülern lastet. „Teilweise sind Schülerinnen in Tränen ausgebrochen, weil sie eine Drei in einer Arbeit hatten.“ Lübke findet das bedenkenswert. „Die Lebenserwartung verlängert sich ständig, aber die für die Charakterentwicklung wichtige Schulzeit wird immer weiter verkürzt.“
Das sagen die Eltern
Auch für die Eltern war die Umstellung auf das achtjährige Gymnasium Neuland. „Gerade in der Anfangszeit in der fünften und sechsten Klasse war unsere Tochter sehr unter Druck“, berichtet Elternvertreter Stefan Lübbert-Heil. Das habe sich zwar glücklicherweise mit den Jahren gelegt, aber es habe durchaus Zeiten gegeben, in denen man über einen Schulwechsel nachgedacht habe.
Dadurch, dass in bestimmten Fächern fast jeder Schüler Nachhilfe genommen hat, gibt es auch einen finanziellen Aspekt. „Dadurch wird natürlich auch das Haushaltsbudget belastet“, so Lübbert-Heil. Er wünscht sich eine offene Evaluation von G8. „Wurde mit der Schulzeitverkürzung das erreicht, was man sich zu Beginn vorgestellt hat?“
Nora Muthmann, ebenfalls Elternvertreterin, ist nicht generell gegen das Modell G8. „Aber die Rahmenbedingungen stimmen momentan nicht.“ Sie sieht eine starke Belastung der Schüler, die teilweise 34 oder 35 Wochenstunden Unterricht haben. Zum Vergleich: Im Abitur nach 13 Jahren sind es 30 Stunden.„Dadurch können viele Schüler nicht mehr ihren Hobbys, etwa im Sportverein, nachgehen.“
Durch die Verdichtung des Stoffes verzichten zudem Schüler auf einen Auslandsaufenthalt. „Unsere Tochter wäre sehr gerne für ein halbes Jahr ins Ausland gegangen.“