Mülheim. Sind Gaffer überhaupt ein Problem? Erste Debatte in der Wolfsburg seit der Corona-Krise mit Feuerwehr und Experten startet mit Überraschungen.
Wenn die Feuerwehr Leben rettet oder einen Brand löscht, wenn die Polizei einen Unfallort sichert, greifen sie hingegen zur Kamera: so genannte Gaffer. „Inzwischen ist immer jemand vor Ort, der uns filmt“, verrät Sven Werner, Branddirektor und Leiter der Berufsfeuerwehr Mülheim zur ersten Diskussionsrunde in der Wolfsburg seit Beginn der Corona-Pandemie. Doch der Mittwochabend startet mit einer Überraschung für die rund 20 Zuschauer, die im Abstand von je zwei bis drei Sitzen voneinander Platz genommen haben.
Denn eine wirkliche Behinderung von Einsatzkräften oder gar Gewalt durch die umstrittenen Schaulustigen sei – der Feuerwehr zufolge – weitaus seltener als gedacht: „Von hundert Fällen ist vielleicht einer dabei“, schildert Werner dem etwas ungläubig schauenden Publikum und einem verblüfften Moderator. Einige tausend Stör-Fälle stünden Millionen von Einsätzen gegenüber.
Behinderungen durch Gaffer statistisch nicht erfasst
Die Debatte ist jedoch nicht einfach zu führen, denn statistisch erfasst sind Behinderungen durch Gaffer selten. Harald Karutz, Professor für Rescue Management, und Kulturpsychologe Pradeep Chakkarath pflichten jedoch den Erfahrungen des Mülheimer Feuerwehrleiters weitgehend bei: Schon der Begriff „Gaffer“ enthalte eine „unzulässige Wertung“, ergänzt Karutz. Denn weitaus häufiger seien die Motive von Zuschauern „absolut verständlich“, also begründet durch Stress in der Situation.
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Oder sogar aus der Evolution und der Psychologie erklärbar. Der Mensch achte eben von Natur aus darauf, was bedrohlich sein könnte, meint Chakkarath, oder weil er es kulturell erlernt hat. Der Eindruck tagtäglicher Einsatzstörungen durch ungeniertes Glotzen werde „zum Teil“ von den Medien erweckt, führt Karutz an.
Gaffen zehrt an den Nerven der Einsatzkräfte
Ende der Debatte? Zum Glück nicht. Denn das ständige Gaffen und Gefilmtwerden, zerrt durchaus an den Nerven der Feuerwehr und Polizei – ein unterbewusster Druck: „Alle Handlungen werden von selbsternannten ,Experten’ zerredet und kritisiert“, schildert der Feuerwehrleiter die Sorge, Fehler machen zu können, die dann binnen Minuten im Internet gezeigt werden.
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In einem Fall filmte Werner sogar zurück und nahm einen Menschen auf, der den Einsatz bei einem sehr schweren Unfall in Mülheim aufzeichnete. Der ungenierte Filmer zeigte sich plötzlich selbst empfindlich: „Warum nehmen Sie mich auf?“ „Hier ist jemand schwerverletzt. Wenn Sie das Video veröffentlichen, zeige ich, wie Sie uns aufgenommen haben“, entgegnete Werner.
Fehlender Respekt gegenüber Staatskräften
Und offenbar fehle es inzwischen auch an Respekt gegenüber Obrigkeit und Staatskräften, stellt der Chakkarath fest – zumindest in Deutschland. Der Kulturpsychologe sieht eine sprachliche Verrohung nicht nur in den sozialen Medien. Frust über Politik und Staat könne zu Aggression gegenüber Staatsorganen wie Polizei und Feuerwehr führen. Aber auch die Hilfsbereitschaft nehme zu, ergänzt Karutz, wie die Corona-Krise zeige.
Schon mit 20 Zuschauern gut gefüllt
Sehr geordnet verlief die erste Veranstaltung in der Wolfsburg seit der Corona-Krise: Deutlich getrennte Ein- und Ausgänge sowie klare Absperrungen in den Sitzreihen und eine Mikrofonangel für die Diskussion mit dem Publikum sorgten dafür, dass die Zuschauer immer genug Abstand halten konnten.
Die hohe Sicherheit ging allerdings auf Kosten der möglichen Zuschauerzahl. Mit genügend Abstand auch nach vorne und hinten, wirkte das geräumige Auditorium – mit unter normalen Umständen gut 200 Plätzen – schon mit 20 Menschen gut gefüllt. Es zeigte sich: Größere Veranstaltungen unter Corona-Bedingungen dürften nicht nur für Veranstaltungshäuser wie die Wolfsburg, sondern auch für Theater und Kinos eine Herausforderung werden.
Die nächste Veranstaltung in der Wolfsburg beschäftigt sich mit den Reichsbürgern, Identitären, Antisemiten und Bürgerwehren. Das Tagesseminar beginnt am Mittwoch, 27. Mai, um 10.15 Uhr. Die Teilnehmerzahl ist aufgrund der Covid19-Pandemie auf maximal 30 begrenzt, Infos: www.die-wolfsburg.de
Nicht unbedingt höhere Strafen, dafür aber mehr Sensibilisierung für den ethischen Umgang mit Aufnahmen und in den sozialen Medien fordert der Leiter der Berufsfeuerwehr ein. Am besten schon von der Kita an – „das ist ein Bildungsthema“.
„Wenn schon Gaffen, dann aber richtig“
„Wenn schon Gaffen, dann aber richtig“, plädiert der Professor für Rescue Management dafür, etwas zuzulassen, was ohnehin kaum verhindert werden kann – allerdings mit klaren Regeln: Abstand halten, nicht im Weg stehen, Filmen nur aus weiter Entfernung, „das wäre eine schlaue Strategie“.
Mehr Gaffen zulassen oder unterbinden? Das Publikum ist gespalten. „Ich finde es wunderbar zu hören, dass die Situation nicht so schlimm scheint, wie in den Medien berichtet wird“, kommentiert eine Frau. Ein Pädagoge will das hingegen nicht recht glauben: „Es muss höhere Strafen geben für das Gaffen.“