Kamp-Lintfort. Im 18. Jahrhundert pilgerten Heiratswillige sogar aus Portugal ins verschlafene Hoerstgen. Und das kleine Dorf hat noch mehr Skurriles zu bieten.
Ein Jahr Arbeit hat der ehemalige Stadtarchivar Dr. Albert Spitzner-Jahn in den neuen stadtgeschichtlichen Band gesteckt. Er beleuchtet das Geschehen im Ortsteil Hoerstgen in der Geschichte und der Gegenwart. Es ist sein nunmehr fünfter Band über Kamp-Lintforter Stadtteile. Das Markenzeichen des Wissenschaftlers Spitzner-Jahn bei dieser Arbeit: akribisches und breites Quellenstudium. Über 600 Anmerkungen verweisen auf genutzte Quellen, die Literaturliste ist lang. Hört sich eher nach einer nur mäßig spannenden Lektüre an. Aber: „Da tun sich Abgründe auf“, wie es Andreas Vanek als Vertreter der Sparkassen-Stiftung formulierte, die die Herstellung des Din A4-Hochglanz-Bandes mit über 10.000 Euro unterstützt hat.
Denn in Hoerstgen ist ganz schön was los. Jedenfalls im 18. Jahrhundert, wie es nachzulesen ist. Denn es hatte sich herumgesprochen, dass in Hoerstgen geheiratet werden kann, wo andernorts eine Eheschließung abgelehnt wurde. Gegen eine entsprechende Bezahlung wurden entsprechende Hindernisse aus dem Weg geräumt. Hoerstgen galt als Eheparadies oder auch als das rheinische „Gretna Green“, wie der Autor festhält, „wo sogar bei Nacht und Nebel Ehen geschlossen wurden“. Ein einträgliches Geschäft für den Herrscher auf Haus Frohnenbruch. Der Heirats-Tourismus und die Freigiebigkeit beim Dispens (die kirchliche Befreiung von Ehehindernissen) habe ihm in manchen Jahren 200 Reichstaler zusätzlich in die Taschen gespült. Und so reisten Verliebte, denen sonst der Segen verweigert wurde, zahlreich an den kleinen Flecken am Niederrhein. Sie kamen, so wird im Buch aufgezählt, aus Portugal, von der Insel Jersey, aus Belgien, Luxemburg oder Frankreich, vor allem aber aus den Niederlanden.
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Sogar ein uneheliches Kind namens Heinrich Wilhelm wurde in der Hoerstgener Kirche getauft. Die Namen der Eltern wurden im Kirchbuch verschwiegen, Taufpaten gab es nicht.
Der geneigte Leser erfährt dank Spitzner-Jahns ausgiebiger Recherche auch viel über die wechselvolle Geschichte des Hauses Frohnenbruch, das heute zur Familie Bird und deren Bio-Landwirtschaft gehört. Schmachvoller Höhepunkt: Kurz bevor Frohnenbruch Ende des 19. Jahrhunderts in den Besitz der Familie Bird kam, war das Anwesen verpachtet an einen gewissen „Ackerer Diederich Dahlen“. Der allerdings zahlte die Pacht nicht, die Zwangsvollstreckung drohte. Der Mann machte sich vom Acker und ließ seine Ehefrau verschuldet sitzen. Dahlen soll nach Amerika ausgewandert sein, hat der Archivar herausgefunden.
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Im Übrigen erfahren interessierte Leserinnen und Leser auch, dass die Hoerstgener scheinbar ein ziemlich streitbares Völkchen waren. Es sei, so schreibt Spitzner-Jahn, immer wieder zu teilweise recht handfesten sowie langwierigen gerichtlichen Auseinandersetzungen zwischen den Landesherrn auf Haus Frohnenbruch und „insbesondere dem Erzbistum Köln bzw. dem kurkölnischen Amtmann in Rheinberg sowie dem Herzogtum Geldern“ gekommen. Dabei ging es um Ansprüche des Erzbistums, nach denen Hoerstgen zum Amt Rheinberg gehöre. Das gipfelte wohl im Jahre 1637 in einem bewaffneten Überfall des kurkölnischen Landmanns, bei dem „das dortige Halsgericht niedergerissen und verbrannt, sowie Hoerstgener Untertanen verschleppt und Wälle geschleift“ worden seien. Nur wenige Jahre später gar wurden Frohnenbruch und Hoerstgen gerichtlich verkauft und durch die Abtei Kamp ersteigert. Durchsetzen sollten dies spanische Soldaten, die Haus Frohnenbruch verwüsteten. Später sollten Entschädigungen gezahlt werden, die jedoch nie flossen. Vielmehr: Die beteiligten Juristen hätten hingegen durchaus gut an der Auseinandersetzung verdient.
Info
Der stadtgeschichtliche Band über Hoerstgen ist ab sofort für 12 Euro in der Buchhandlung am Rathaus, Moerser Straße 239, Telefon: 02842/921779, zu erwerben. Das Buch hat 215 Seiten und hat 137 Abbildungen, teils historischer, teils aktueller Art. Zahlreiche Fotos stammen vom Hoerstgener Wolfgang Lietzow. Herausgeber ist der Verein Niederrhein. Horstgen ist der fünfte Ortsteil, mit dem sich Spitzner-Jahn beschäftigt. Bisher erschienen sind Bücher über Rossenray, Niersenbruch, Geisbruch und Gestfeld. Es fehle noch „Kamp und die Innenstadt“, befindet der Autor, der so noch viel vor hat.
Ebenso Erwähnung findet in dem Buch, wann die ersten fünf elektrischen Straßenlaternen in Hoerstgen aufleuchteten. Es war 1912. Bemerkenswert fand Spitzner-Jahn auch, dass 1955 eine 80-jährige Bauernmagd das Bundesverdienstkreuz erhielt, weil sie 50 Jahre beim gleichen Arbeitgeber beschäftigt war. Mit Schmunzeln nehmen die Leser zur Kenntnis, dass 1888 Lehrer Beisiegel einen neuen Küchenschrank von der Gemeinde haben wollte. Der Gemeinderat lehnte das ab. Es bestehe keine Verpflichtung, den Lehrern einen Küchenschrank zu liefern. Geklappt hat aber die Sache mit den Öfen für zwei Lehrerwohnungen. Das „Königliche Landrathsamt“ in Moers verfügte entsprechend, nachdem sich der Gemeinderat auch hierfür nicht unbedingt zuständig sah.
Es sind viele kleine Anekdoten wie diese, die den wissenschaftlichen Ansprüchen genügenden Band doch zu einer unterhaltsamen Lektüre machen.