Herne. Familie Starchenko ist nach dem Überfall Russlands nach Herne geflüchtet. Eine Rückkehr in die Ukraine kann sie sich nicht mehr vorstellen.

Als Russland am 24. Februar 2022 die Ukraine überfiel, flüchteten viele gut ausgebildete Ukrainerinnen und Ukrainer nach Deutschland - und nach Herne. Zu ihnen gehört auch Familie Starchenko. Lebten sie in den ersten Monaten quasi zwischen den Welten, mit der Hoffnung, nach ein paar Monaten in ihre Heimat zurückzukehren, so haben sie inzwischen all ihre Pläne auf ein dauerhaftes Leben in Herne ausgerichtet.

Tetjana Starchenkos Flucht geschah unter außergewöhnlichen Umständen: Sie erfuhr während einer Dienstreise nach Brasilien von dem Überfall und kehrte daraufhin gar nicht in ihr Dorf nahe der Millionenstadt Charkiw zurück, sondern reiste über Istanbul nach Herne, weil dort eine Schwägerin wohnt. Ehemann Vadym und Sohn Valerii kamen im April nach.

„Ich habe immer das Gefühl, dass ich auf etwas warte“

Sie könne immer noch nicht begreifen, dass sie schon seit mehr als zweieinhalb Jahren in Herne lebt, erzählt die 43-Jährige. In einem früheren Gespräch mit der Herner WAZ-Redaktion hatte sie gesagt: „Für uns gibt es keinen Frühling, Sommer, Herbst oder Winter. Für uns ist immer Februar. Die Zeit ist quasi erstarrt.“ Zwei Jahre sind einerseits eine lange Zeit, andererseits fühle es sich an wie ein einziger Tag. „Ich habe immer das Gefühl, dass ich auf etwas warte.“

Andererseits: Das Leben gehe immer weiter in kleinen Schritten. Und mit jedem Schritt entwickle sich Deutschland und Herne immer stärker zur neuen Heimat der Familie.

Flüchtling hilft nun als Jobcoach anderen Menschen beim Weg in die Arbeit

Tetjana Starchenko kam mit einem fast unschätzbaren Vorteil nach Herne: Da sie schon in der Schule Deutsch gelernt hat und zudem ausgebildete Dolmetscherin ist, sind ihre Deutschkenntnisse perfekt. So gehörte sie zu den ersten Flüchtlingen, die in Herne - und wahrscheinlich in ganz NRW - eine Beschäftigung aufnahmen: Sie übersetzte im Herner Jobcenter. Seit diesem Frühjahr arbeitet sie beim Bildungsinstitut Vogel als Jobcoach. „Hier kann ich Menschen helfen“, sagt sie im Gespräch mit der Herner WAZ-Redaktion. Das entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass ein ukrainischer Flüchtling, von denen es heißt, dass sie nicht schnell genug in den deutschen Arbeitsmarkt integriert werden, nun als Coach dabei hilft, anderen Menschen, einen Job zu verschaffen.

Auch ihr Ehemann Vadym hat inzwischen Arbeit gefunden - beim Wanner Fenster- und Türenbau-Unternehmen Huthmacher. Sein Weg sei deutlich schwieriger gewesen, erzählt Starchenko, denn der 44-Jährige habe vor der Ankunft in Herne kein Wort Deutsch gesprochen. Doch da er in der Ukraine selbst ein Unternehmen für Fensterbau gehabt habe, habe er die Stelle beim Wanner Handwerksunternehmen bekommen. „Die Sprache selbst ist zwar ein Problem, doch Handwerker verstehen sich eben“, erzählt Starchenko. Der Weg ihres Ehemanns soll weitergehen - er will seinen „Meister“ machen.

Auch für den 19-jährigen Sohn Valerii zeichnen sich die beruflichen Perspektiven ab: Wenn er im nächsten Jahr das Emschertal-Berufskolleg abgeschlossen hat, wolle er wohl eine Elektriker-Lehre machen, erzählt seine Mutter.

Das Haus der Familie ist inzwischen komplett zerstört

Auch wenn sie keine langfristigen Pläne mehr machen: Ihre Zukunft sieht die Familie in Deutschland. Abgesehen von Verwandten und Freunden gibt es kaum noch etwas, was die Starchenkos zurückzieht. Vor dem Krieg hatten sie in einem Dorf nahe Charkiw ein eigenes Haus. Zunächst sei es von russischen Soldaten geplündert worden, später beschädigt. Inzwischen sei es durch den russischen Beschuss komplett zerstört worden, erzählt Tetjana Starchenko. Auch wenn die Bombardierung Charkiws keine Nachricht in Deutschland sei, es gebe jeden Tag Angriffe, denn die Stadt liegt nur rund 40 Kilometer von der russischen Grenze entfernt. „Es ist schwer zu ertragen, was uns unsere Familie erzählt.“ Mehr noch: Vor wenigen Monaten fiel der älteste Freund von Vadym Starchenko an der Front.

Auch wenn es nicht in den deutschen Nachrichten ist: Die ukrainische Millionenstadt Charkiw wird täglich beschossen.
Auch wenn es nicht in den deutschen Nachrichten ist: Die ukrainische Millionenstadt Charkiw wird täglich beschossen. © dpa | Andrii Marienko

Jetzt haben wir Sicherheit und können in Ruhe leben

Und wenn es doch wider Erwarten Frieden gibt? Dann würden sie wohl auch nicht zurückkehren. „Was passiert, wenn der Krieg zurückkommt? Das würden wir psychisch nicht verkraften.“ Auch wenn sie in Deutschland mit weniger Geld auskommen müssten als vor dem Krieg in der Ukraine: „Jetzt haben wir Sicherheit und können in Ruhe leben. Und unser Sohn soll eine Zukunft haben.“