Herne. Der Herner Jörg Höhfeld (77) ist friedensbewegt und für Waffen an die Ukraine. Was er über Pazifismus, Putin und eigene Kriegserfahrungen sagt.
Jörg Höhfeld ist Ur-Grüner, friedensbewegt und seit 2019 „Opa for Future“. Im Interview mit der WAZ spricht der Herner (77) über Waffenlieferungen an die Ukraine, die Haltung seiner Partei zur Aufrüstung, seine persönlichen Kriegserfahrungen und darüber, was er sich für seine Enkelkinder wünscht.
Wladimir Putin greift die Ukraine an, tötet Menschen und zerstört Städte. Ist Ihre persönliche Einstellung zum Krieg, zu Waffen und zur Aufrüstung durch den russischen Überfall auf die Ukraine erschüttert worden?
Nein, ich fühle mich eher bestätigt in meiner Auffassung, dass Krieg etwas ganz Furchtbares ist und dass Krieg Tod, Leid und Zerstörung bringt. Die Frage der Bewaffnung und Aufrüstung muss man in einer solchen Situation natürlich neu diskutieren.
Würden Sie sich selbst als Pazifist bezeichnen?
Sagen wir mal: zu drei Vierteln. Es gibt immer Situationen, in denen ich der Meinung bin, dass man nicht anders kann. Ich nenne mal ein Beispiel mit Ursula von der Leyen, obwohl ich kein Freund von ihr bin: Dass sie als Verteidigungsministerin gesagt hat, wir liefern den kurdischen Kämpfern Waffen, damit sie sich gegen die Terroristen des „Islamischen Staats“ durchsetzen können, fand ich richtig. Der IS hätte alle Jesiden ermordet, wenn es keinen Widerstand gegeben hätte.
Ihr Parteifreund Robert Habeck hat bei „Maybritt Ilner“ im ZDF gesagt: „Es muss erst einmal das Schießen und das Töten gestoppt werden, und das kann man nach Lage der Dinge nur über zwei Maßnahmen: Die Ukrainer müssen standhalten, und wir unterstützen sie dabei, wir liefern weiter Waffen.“ Teilen Sie diese Analyse?
Ja. So traurig es ist, aber wir werden nun ein Jahrzehnt bekommen, in dem es heißt: Frieden schaffen durch immer mehr Waffen. Erst wenn ein Gleichgewicht an konventionellen Waffen geschaffen worden ist, sind wieder Verhandlungen möglich. Und dann muss es auch wieder Abrüstung geben. Wenn es Schwächere gibt, werden Putin oder andere das gnadenlos ausnutzen. Dabei hätte eigentlich jeder sehen können, was er mit Grosny in Tschetschenien gemacht. Das war am Ende fast eine Trümmerstadt. Oder Aleppo in Syrien. Auch diese Stadt hat Putin in Schutt und Asche gelegt. So neu ist das also heute alles gar nicht.
Haben Sie sich, haben wir alle uns in Putin geirrt?
Wir haben gehofft, dass wir durch Wandel, Handel und Annäherung in Europa Frieden schaffen können. Da habe ich mich wie viele andere geirrt. Meine Meinung hat sich aber nicht nach Grosny und Aleppo geändert, sondern durch die Annexion der Krim. Dort ist mir klar geworden: Putin ist auch bereit, Grenzen zu verschieben. Umso trauriger, dass die deutsche Unterzeichnung von Nord Stream 2 nach der Annexion der Krim erfolgt ist.
Abrüstung und der Grundsatz „keine Waffen in Kriegs- und Krisengebiete“ gehörte ja fast schon zur Grünen DNA. Fällt es Ihrer Partei deshalb besonders schwer, für Aufrüstung und Waffenlieferungen einzutreten?
Ich glaube, dass es den Grünen diesmal weniger schwer fällt als 1999. Wir waren damals erst wenige Monate mit der SPD in der Regierung, als der Kosovo-Krieg ausbrach. Es gab Parteiaustritte, auch in Herne. Ich war damals ebenfalls gegen den Bundeswehr-Einsatz.
Mit welchen Konsequenzen?
Ich bin Mitglied geblieben, obwohl ich hin und her überlegt habe, ob ich austreten soll. Ich verteilte in Herne Flugblätter mit der Forderung „Die Waffen nieder!“, die durfte ich sogar bei den Grünen drucken. Ich war der Meinung, dass es nicht in Ordnung ist, wenn sich Deutschland mit der Nato an der Bombardierung Serbiens beteiligt.
Bei den Grünen sind derzeit keine oder nur wenige Stimmen zu hören, die den außenpolitischen Kurs kritisieren, auch nicht in Herne. Gibt es anders als 1999 einen breiten Konsens?
Ich glaube, das ist überwiegend der Fall. Annette Kurschus, die Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche Deutschlands, hat in einem Interview gesagt: „Wer bin ich denn, dass ich den Ukrainern das Recht auf Selbstverteidigung abspreche?“ Diese Position ist inzwischen auch bei den Grünen weit verbreitet. Und das ist der große Unterschied zu der Situation vor einem halben Jahr, als Robert Habeck an der Frontlinie im Donbass stand und sagte, dass man den Ukrainern Defensivwaffen liefern sollte.
Dafür hat er viel Gegenwind bekommen.
Auch interessant
Das löste einen regelrechten Shitstorm in der Öffentlichkeit aus. Auch bei den Grünen gab es viel Kritik. Wir waren im Bundestagswahlkampf und es wurde gesagt: Robert, jetzt halt mal den Mund und mach uns nicht alles kaputt. Heute weiß man: Diese Forderung war berechtigt. Ich fand die Kritik schon damals zu kurz gegriffen. Es war nicht richtig, die Forderung der Ukraine nach Defensivwaffen einfach so wegzuwischen. Im Donbass tobte doch schon der Krieg. Man muss allerdings hinzufügen, dass ich ein Fan von Robert bin, er ist ja auch mal bei uns in Herne gewesen. Das spielt bei meiner Einschätzung sicherlich auch eine Rolle ...
Waffenlieferungen an die Ukraine ist das eine. Deutschland will aber auch 100 Milliarden Euro in die Bundeswehr stecken und dauerhaft aufrüsten. Wie stehen Sie dazu?
Also erst einmal: Die 100 Milliarden waren ein Schnellschuss, das war eine symbolische Zahl. Anderseits: Man muss genau prüfen, was wir für die Landesverteidigung brauchen. Deutschland wird im Zweifel nicht am Hindukusch verteidigt, sondern an der Weichsel und an der Memel. Und dafür müssen wir umrüsten.
Zu Ihren persönlichen Kriegserfahrungen: Sie sind im Juli 1944 geboren. Wo haben Sie und Ihre Familie die letzten Monate des Krieges verbracht?
Meine Mutter war Wanne-Eickelerin. Als sie hochschwanger war, wurde sie nach Winterberg ins Sauerland gebracht, wo ich dann geboren bin. Einige Wochen später kehrten wir wieder nach Wanne-Eickel zurück. Es fielen aber immer noch Bomben, es war eher noch schlimmer geworden. Bei Bombenalarm rannte meine Mutter immer mit mir von unserer Wohnung an der Haydnstraße in den Bunker an der Hülshoffstraße. Wir mussten dann Wanne-Eickel erneut verlassen. Daran habe ich natürlich keine Erinnerung, aber das ist mir hinterher alles berichtet worden.
Wohin ging es damals?
Wir hatten entfernte Verwandte in Peenemünde in Mecklenburg-Vorpommern, denen es besser ging und die uns aufnahmen. Dort kamen dann aber immer mehr Soldaten. Als wir den Geschützdonner hörten, fuhren wir mit dem allerletzten Zug nach Westen. Mir wurde später erzählt, dass der Bahnhof völlig überfüllt war und ich durchs Fenster des Zuges gehoben werden musste. Wir fuhren nach Neumünster zu einem Bruder meiner Mutter, wo aber schon die Engländer waren. Da ging es uns richtig schlecht. Meine Mutter lief hinter Wagen her – in der Hoffnung, dass mal ein paar Kartoffeln runterfielen.
Und wann kehrten Sie nach Wanne-Eickel zurück?
Im Sommer 1945 fuhr meine Mutter mit mir im offenen Güterwagen zurück nach Wanne-Eickel. Ich weiß das alles, wie gesagt, nur aus Erzählungen. An eine etwas spätere Begebenheit kann ich mich aber selbst noch erinnern: Als ich einige Jahre älter war, passte ein junges Mädchen auf mich auf. Als wir spazieren gingen, flog ein Flugzeug über uns hinweg. Sie bekam einen Schock, fing an zu zittern und zu weinen. Sie hatte die Bombardierungen noch bewusst miterlebt. Das Flugzeug weckte schlimme Erinnerungen und überwältigte sie völlig.
Prägen persönlichen Erfahrungen? Entwickelt man ein größeres Verständnis für Menschen, die aus der Ukraine kommen und Ähnliches miterleben mussten?
Ich glaube schon, dass das so ist. Ich habe länger nicht darüber nachgedacht, auch nicht 2015, als die Flüchtlinge aus Syrien kamen. Aber bei den aktuellen Bildern aus der Ukraine, mit dieser Wucht, da ist mir alles wieder zu Bewusstsein gekommen.
Wie sind Sie ein friedensbewegter, politisch denkender Mensch geworden?
Das war wohl vor allem der Einfluss meiner Mutter, die als evangelische Christin treu zur Kirche gestanden hatte, auch unter den Nazis. Mein Vater war Nationalsozialist und trat nach dem Krieg in die rechtsextreme Deutsche Reichspartei ein. Meine Eltern trennten sich später, ich blieb bei meiner Mutter. Je älter ich wurde, desto stärker fühlte ich mich zur Gemeindejugend hingezogen, es gab dort eine linke Atmosphäre. Ich war aber auch Mitglied der Reichspartei; mein Vater hatte mich aufgenommen.
Und wie haben Sie sich davon befreien können?
Der entscheidende Punkt war erreicht, als ich 1963 gemustert wurde und zur Bundeswehr sollte. Ich kannte durch die Gemeinde einige Kriegsdienstverweigerer, das wollte ich auch. Mein Vater war völlig platt. Er sagte: Wie soll ich das denn meinen Kameraden erzählen? Die Auseinandersetzung blieb mir aber erspart, weil er starb. Ich bin dann sofort aus der Reichspartei ausgetreten. Und 1964 bin ich zum ersten Mal im Ruhrgebiet beim Ostermarsch mitgelaufen.
Nehmen Sie seitdem jedes Jahr am Ostermarsch teil?
Nein, nicht regelmäßig. Ich habe mir in den vergangenen Jahren zunächst einmal die Aufrufe durchgelesen und dann meistens teilgenommen. In diesem Jahr werde ich nicht mitgehen, weil ich mich mit einigen Inhalten nicht identifizieren kann. Da wird zum Beispiel wieder der Nato-Überfall auf Serbien herangezogen. Kann man alles kritisieren, habe ich ja auch einmal gemacht. Aber dann muss man auch über das Massaker im bosnischen Srebrenica reden. Außerdem wird behauptet, dass Oligarchen „in Ost und West“ etwas schüren, um Profit zu machen. Also die Aufrüstung kommt nun sicherlich nicht, weil die Aktionäre von Rheinmetall so viel Macht haben, dass sie die Stimmung drehen konnten … . Auf eine Teilnahme verzichtet habe ich auch in den Jahren, in denen zu den Kriegen in Syrien und Tschetschenien nichts gesagt wurde.
Sie haben mit ihrer Frau 2019 in Herne „Oma und Opa for Future“ ins Leben gerufen. Ist Klimaschutzpolitik auch Friedenspolitik?
Auch interessant
Das kann man nicht trennen. Aktuell zeigt sich: Wenn wir eher Maßnahmen für den Klimaschutz eingeleitet hätten, wären wir jetzt nicht so abhängig von den fossilen Brennstoffen, die wir zum großen Teil aus Russland bekommen. Und was mir natürlich Sorgen macht: Das ganze Geld, was nun in die Rüstung gehen wird, fehlt anschließend in der Bildung, im Sozialen, in der Gesundheitsversorgung und natürlich auch im Klimaschutz. Besonders die ärmeren Menschen in Deutschland werden darunter leiden.
Zum Abschluss eine ganz persönliche Frage: Haben Sie Angst vor einem Dritten Weltkrieg?
Nein, meine Sorge ist da nicht so groß.
Machen Sie sich Sorgen um die Zukunft Ihrer Tochter und Ihrer beiden Enkelkinder?
Auf jeden Fall. Der Klimawandel und die Sorge um künftige Generationen haben ja meine Frau und mich motiviert, „Oma und Opa for Future“ zu gründen. Man fragt sich: In welcher Welt werden sie einmal leben?
Und wie wird der Krieg in der Ukraine enden?
Ich bin skeptischer Optimist. Es wird einen Status quo geben, der für die Ukraine schlechter ist als vorher. Aber das Land wird als selbstständiger und neutraler Staat überleben. Und meine Hoffnung ist, dass es in Russland wieder in eine andere Richtung gehen wird. Ich wünsche mir, dass meine Enkelkinder und deren Kinder niemals in einen Luftschutzbunker rennen müssen, so wie meine Mutter es mit mir machen musste.
>>> ZUR PERSON: Banker wollte Jörg Höhfeld nicht bleiben
Jörg Höhfeld hat nach dem Besuch der Realschule Crange und einer Ausbildung bei der Commerzbank in Wanne-Eickel sein Abitur nachgemacht. Nach seinem Politikstudium zunächst in Berlin und dann an der Bochumer Ruhr-Uni war er vor allem in der Erwachsenenbildung tätig.
Bei den Herner Grünen war er unter anderem Ratsfraktionsvorsitzender und Bundestagskandidat. Aktuell gehört der Rentner als sachkundiger Einwohner dem Schulausschuss an. Höhfeld ist verheiratet und hat eine Tochter sowie zwei Enkelkinder (7 und 12).