Hagen/Bielefeld. Annette Kurschus, Ratsvorsitzende der Ev. Kirche Deutschlands, im Gespräch über Waffenlieferungen in die Ukraine und Visionen vom Frieden.
Annette Kurschus ist seit November des vergangenen Jahres Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche Deutschlands. Ihre Amtszeit fällt in eine Zeit des globalen Umbruchs.
Russland führt einen mörderischen Angriffskrieg gegen die Ukraine, nun liefert auch Deutschland Waffen in das Krisengebiet. Ist das richtig?
Annette Kurschus: Es gibt Situationen, die sich der Alternative von richtig und falsch entziehen. Ich durfte in Berlin bei der großen Friedensdemonstration sprechen und habe erlebt, wie weit mehr als 100.000 Menschen für den Frieden auf die Straße gegangen sind, auch viele Ukrainer. Sie erwarten Unterstützung von uns. Sie brauchen mehr als unser Mitgefühl und unsere Gebete. Ihr Land wurde willkürlich und bösartig überfallen, sie haben das Recht, sich zu verteidigen. Wer bin ich, ihnen ins Gesicht zu sagen, sie sollten dazu Pflugscharen benutzen. Dennoch bin ich nach wie vor der Überzeugung, dass Waffen grundsätzlich kein Mittel sind, die den Frieden bringen. Mit diesem Dilemma quälen sich jetzt auch vielen Politikerinnen und Politiker, die konkret entscheiden müssen.
Nun droht ein langer kalter Krieg.
Jetzt droht vor allem dieser heiße Krieg; es droht, dass er eskaliert und außer Kontrolle gerät. Es droht, dass Putin noch andere seiner martialischen Drohungen in die Tat umsetzt. Die Skrupel, Waffen in die Ukraine zu liefern, beruhen ja nicht auf abgehobener Moral. Sie sind dem Wissen geschuldet, wie irrational die Logik von Kriegen ist. Und wie unberechenbar Diktatoren sind, die Kriege führen. Was geschieht, wenn der Krieg, angereichert mit zusätzlichen Waffen, immer heißer wird? Also: Wir dürfen jetzt nicht glauben, die gesamte Friedensidee sei naiv und nun im Handstreich weggefegt worden. Ich setze weiterhin auf Diplomatie und möglichst wenig Waffen.
Ein Krieg ist immer auch eine besondere Zeit für die Kirche.
Glaube und Religion haben ein starkes Potenzial für den Frieden und dafür, Menschen in Krisen zu stärken. Das haben wir auch während der Pandemie gespürt: Wenn Menschen sich ohnmächtig fühlen, wenn sich Ängste ausbreiten, wenn die eigenen Worte versagen, dann haben Gebete eine eigene Kraft. Kein Krieg wird nur mit der Schlagkraft von Waffen geführt. Er wird auch mit Worten und im Namen angeblicher „Werte“ geführt, mit denen Herrscher ihr Volk belügen und ihre Soldaten gefügig machen. Jeder Aggressor gibt seinem Angriff eine höhere Moral oder Mission, Putin auch. Deshalb ist es so wichtig, dass wir mit unseren biblischen Bildern und Visionen vom Frieden dagegenreden. Wie stark das wirken kann, sehen Sie am bereits erwähnten Bild „Schwerter zu Pflugscharen“. Ohne diese Vision wäre die friedliche Revolution in der DDR kaum denkbar.
Haben Sie Kontakt zur russisch-orthodoxen Kirche? Deren Patriarch Kirill schlägt sich auf Putins Seite.
Wir stehen mit der russisch-orthodoxen Kirche seit Ende 50er-Jahre durchgehend in Kontakt. Und zwar mit ihren beiden Armen, dem ukrainischen und dem russischen. Auch in schwierigen und angespannten Zeiten haben wir dieses Band nicht zerschnitten, weil es wichtig ist, im Gespräch zu bleiben. Auch jetzt werden wir alles tun, um unsere Stimme für den Frieden zu erheben. Wir kennen die Verstrickungen, es war schwierig, gemeinsam Friedensgebete zu entwickeln. Ich gebe die Hoffnung aber nicht auf, dass auch die russisch-orthodoxe Kirche mit uns gemeinsam für den Frieden wirksam werden möchte.
Kirill bezeichnete ukrainische Soldaten als „Mächte des Bösen“.
Das ist tatsächlich nur schwer zu hören. Zugleich wissen wir, dass die russisch-orthodoxen Brüder und Schwestern nicht so frei reden können wie wir und unter Putins diktatorischem Regime stehen. Der Glaube und der Name Gottes sind leider immer wieder in kriegerische Auseinandersetzungen hineingezogen und missbraucht worden, um eigene Machtinteressen durchzusetzen. Das ist übrigens auch in der Geschichte der Kirche ein trauriges Kapitel.
Ihre Aufgabe ist auch die Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs in der evangelischen Kirche. Wie kommen Sie voran?
Wir wollen transparent und lückenlos aufarbeiten und alles dafür tun, dass sexualisierte Gewalt in unserer Kirche bestmöglich verhindert wird. Dabei bin ich dankbar für jede staatliche Unterstützung. Die EKD-Synode im vergangenen Herbst hat noch einmal unterstrichen, dass dieses Thema auf allen Ebenen unserer Kirche behandelt werden muss. Präventiv ist jede Gemeinde nach Kirchengesetz verpflichtet, sich damit zu befassen und die notwendigen Maßnahmen zu treffen. Das geht bis zu einer Änderung unserer Datenschutzrichtlinien, die jetzt vereinfacht Akteneinsicht ermöglichen. Mit dem Unabhängigen Beauftragten der Bundesregierung planen wir die Einsetzung unabhängiger regionaler Aufarbeitungskommissionen, die systematisch und vor Ort Gewalttaten und den Umgang mit Betroffenen aufarbeiten. Wir haben außerdem eine große wissenschaftliche Studie auf den Weg gebracht, die von unabhängig arbeitenden Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen durchgeführt wird. Sie widmet sich der Aufarbeitung der Fälle in der Vergangenheit und untersucht auch die strukturellen Muster in unserer Kirche, die das Vorkommen sexualisierter Gewalt begünstigen. Das sind erwiesenermaßen andere als in der katholischen Kirche. Dies alles braucht seine Zeit, weil wir nicht nur das geistliche Personal in den Blick nehmen, wie es bei der katholischen MHG-Studie der Fall war. Evangelischerseits blicken wir zusätzlich auf den gesamten Bereich der Diakonie, zum Beispiel die evangelischen Kinderheime, und auf die Mitarbeitenden in sämtlichen kirchlichen Arbeitsfeldern.
Welche Muster meinen Sie?
Die evangelische Kirche hat bewusst flache Hierarchien. Pfarrerinnen und Pfarrer sind buchstäblich berührbar. Diese Nähe wurde möglicherweise von Tätern für ihre Verbrechen ausgenutzt. Solche Faktoren lassen wir gerade in der unabhängigen Studie untersuchen.
Wie sehr berührt Sie das persönlich?
In unserer Kirche, die ein Schutzraum sein soll, wurde Menschen Unrecht angetan und Leid zugefügt. Das schmerzt mich zutiefst. Und ich sehe mit großer Sorge den riesigen Vertrauensverlust, der dadurch entstanden ist. Wir müssen alles in unserer Macht stehende tun, um Tätern entgegenzutreten und Betroffene wirksam zu unterstützen. Deshalb ist es umso wichtiger, dass wir das Thema im „Pflichtkatalog“ unseres präventiven kirchlichen Handelns verankern und Unrecht entschlossen und unabhängig aufarbeiten lassen. Das sind wir den Betroffenen und allen Menschen in der Kirche schuldig.
Sie haben vor fünf Jahren mehrmals mit dem Papst über die Ökumene gesprochen. Sind katholische und evangelische Kirche enger zusammengerückt?
Das 500. Jubiläumsjahr der Reformation haben wir 2017 gemeinsam gefeiert im Glauben an den einen Herrn Christus. Das war ein Meilenstein. Der vertrauensvolle Kontakt zwischen unseren Kirchen ist seitdem spürbar gewachsen. Dies macht es möglich, redlich und offen auch das zu benennen, was uns in allem Verbindenden immer noch trennt.
Da tickt die katholische Kirche in Deutschland aber anders als die in Rom, oder?
Die Katholische Kirche muss tatsächlich immer die Rückvergewisserung zu Rom und der Weltkirche suchen. Diese große Einheit ist sicher eine Stärke. Zugleich schwächt es aber auch, wenn ich keinen Schritt tun kann, ohne dass ihn alle anderen mitgehen. Es gibt Schritte, die werden auf diese Weise gar nicht gemacht. Ich ahne: Ginge es allein um die katholische Kirche in Deutschland, wären wir in manchen Fragen weiter. Den Prozess des Synodalen Wegs nehmen wir mit großer Aufmerksamkeit wahr. Da geht es unter anderem um die zentrale Frage von Frauen in geweihten geistlichen Ämtern. In Gesprächen mit Katholikinnen und Katholiken höre ich, wie intensiv da gerungen wird. Das hat meinen höchsten Respekt.
Beide Kirchen verlieren Mitglieder. Ist das ein Naturgesetz?
Nicht nur. Der Rückgang ist tatsächlich zunächst eine Folge der allgemeinen demografischen Entwicklung. Er hängt darüber hinaus mit begrüßenswerten Freiheiten zusammen: Die Zugehörigkeit zu einer Religion beruht in unserer freien Gesellschaft nicht mehr auf Gewohnheit und autoritärem Zwang. Viele Menschen fühlen sich zugehörig zum Glauben, meinen aber, die Mitgliedschaft in einer Gemeinde sei dafür nicht nötig. Die gute Nachricht ist: Es gibt durchaus Faktoren für den Mitgliederverlust, die wir beeinflussen können. Es ist eine große Aufgabe, den Glauben insbesondere für junge Menschen bekannt und attraktiv zu machen. Nicht umsonst setzt unsere Kirche in den Bereichen der Bildung und der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen starke Akzente. Es geht darum zu zeigen, welche hilfreiche und orientierende Kraft der Glaube für das persönliche Leben und für die Gesellschaft hat. Die Stärke von Kirche hängt im Übrigen nicht allein an ihrer Größe: Auch wenn wir weniger werden, können wir viel bewirken.
Die Zahl der Pfarrer und Pfarrerinnen wird weiter sinken. Wie wollen Sie Nähe in den Gemeinden aufrechterhalten?
Wir wollen das unverzichtbare ehrenamtliche Engagement weiter fördern. Außerdem sind wir dabei, vermehrt Menschen aus anderen Berufsgruppen und mit anderen Ausbildungen und Erfahrungen einzustellen. Und wir werden das Zusammenspiel der hauptamtlich Mitarbeitenden verbessern. Pfarrerinnen und Pfarrer sollen künftig immer weniger die Allrounder sein, die für alle Aufgaben zuständig sind. Stattdessen regen wir an, interprofessionelle Teams zu bilden. In solchen Teams arbeiten Gemeindemanager, Pädagoginnen, Sozialarbeiterinnen, Musiker und Pflegekräfte in der Leitungsebene mit den Pfarrerinnen und Pfarrern zusammen. Diese können sich dann stärker auf ihre theologischen Kompetenzen und ihren seelsorglichen Auftrag konzentrieren. Das könnte unserer Kirche einen neuen Kick geben.
Wurzeln im Siegerland
Annette Kurschus wurde 1963 in Rotenburg an der Fulda geboren. Sie wuchs in Siegen auf, wo ihr Vater als Pfarrer an der Siegener Nikolaikirche tätig war. Nach dem Abitur 1982 in Siegen studierte sie Evangelische Theologie. Ihr Vikariat absolvierte sie in Siegen-Eiserfeld. Kurschus ist seit 2012 auch Präses (leitende Geistliche) der Evangelischen Kirche von Westfalen.