Herne. Die Stühle blieben leer, das Publikum folgte Emel Aydogdu via Zoom: Was sie in den Herner Flottmann-Hallen las, glich einer Versuchsanordnung.

„White Rabbit Red Rabbit“, das preisgekrönte Erstlingswerk des iranischen Dramatikers Nassim Soleimanpour, erlebte am Samstagabend in den Flottmann-Hallen in einer Produktion des Theaters Kohlenpott eine ganz besondere Premiere: Zum Jahrestag der Pandemie-bedingten Theaterschließungen fand hier zeitgleich mit Veranstaltungen an vielen anderen Orten weltweit als Live-Stream über Zoom eine Aufführung mit der in Bochum lebenden kurdischen Schauspielerin und Regisseurin Emel Aydogdu statt.

Die junge Darstellerin sitzt an einem Tisch, vor ihr stehen zwei Wassergläser und ein kleines Fläschchen. In einem Umschlag erhält sie den Text des Stückes, das sie vortragen soll. Denn Nassim Soleimanpour hat zur Auflage gemacht, dass der Darsteller sein Stück vorher nicht kennen darf. Blind Date mit einem Autor, gewissermaßen. Die Szenerie erinnert an eine Versuchsanordnung. Denn die Schauspielerin liest sowohl den Text des Stückes als auch die Anweisungen des Autors. Und der Text ähnelt auch sehr stark der Beschreibung eines Experiments.

Experimentelle Fabel

Von einem weißen Kaninchen ist da zunächst die Rede, das endlich mit seinem Ticket an einem Bären vorbei in den Zirkus gehen kann, wo es allerdings Anstoß erregt, weil es nicht immer vorschriftsmäßig seine Ohren bedeckt hat. Weitere Tiere kommen dazu, manche helfen dem weißen Kaninchen, andere den Bären – es entsteht eine bizarre Situation mit einem Riesenchaos. Bruchlos tauchen im Stück Bemerkungen des Autors zu seiner eigenen Situation auf, die Beziehungen seiner Realität zu der beschriebenen Zirkuswelt liegen auf der Hand.

Dann startet schon sein zweites Experiment. Kaninchen in einem Käfig werden dabei so dressiert, dass sie sich gegen ein anderes Kaninchen wenden, sobald dieses etwas Besonderes tut. Und seine Versuchsanordnung beschreibt auch, dass diese Konditionierung bestehen bleibt, wenn er die Probanden nach und nach austauscht. Gehorsam, Mitläufertum, Manipulation – das sind die Themen, die Nassim Soleimanpour in dieser experimentellen Fabel anspricht, die voll assoziativer Kraft die Traditionen der Tierfabel mit aktueller Gesellschaftssatire verbindet und sich dabei der Gestaltungsmittel des epischen Theaters im Stil von Bertolt Brecht bedient.

Allein mit dem Filmteam: Emel Aydogdu vor leeren Stühlen des Theatersaals in den Flottmann-Hallen.
Allein mit dem Filmteam: Emel Aydogdu vor leeren Stühlen des Theatersaals in den Flottmann-Hallen. © FUNKE Foto Services | Rainer Raffalski

Immer wieder fordert Akteurin Emel Aydogdu Teilnehmer zum Mitmachen auf – entweder per Chat oder direkt zum Mitspielen im virtuellen Raum, die Grenzen zwischen Spiel und Realität verschwimmen so immer mehr. Virtuos meistert die junge Darstellerin, die bereits 2011 als Regisseurin eines Kurzfilms mit dem Sonderpreis der Mercator Stiftung ausgezeichnet wurde, den Spagat zwischen den nahtlos ineinander übergehenden verschiedenen Spiel- und Erzählebenen in diesem multimedialen Prisma. Die Parabel hinterfragt die Macht des Wortes, die mühelos neue Fakten schaffen kann.

Die Fiktion gleitet unmerklich in eine Pseudo-Realität, die an Reality-Shows erinnert – nur dass das Thema dieses Mal ein öffentlich inszenierter Selbstmord ist, der auch eine offizielle, medienwirksam inszenierte Hinrichtung sein könnte, wieder in Form einer Versuchsanordnung, mit der der Autor seine Darstellerin konfrontiert. Wieder verschwimmen Grenzen, es gibt keine eindeutige Wahrheit. Aber eine Botschaft hat Nassim Soleimanpour doch: Liebes rotes Kaninchen, wichtig ist, dass es dir gelungen ist, deinen Weg zu finden. So wie es uns hoffentlich allen gelingt.