Herne. In Herne wurde das Trans-Mädchen Jess von Minderjährigen angegriffen, lag danach im Koma. Wie sie den Vorfall erlebte, was sie sich wünscht.
- Ende März ist die damals 15-jährige Jess auf dem Friedhof in Herne-Holsterhausen zusammengeschlagen worden.
- Nach dem Angriff lag das transsexuelle Mädchen vier Tage lang im Koma.
- Die mutmaßlichen Täter sind minderjährig (12 und 13 Jahre alt) und damit strafunmündig.
Die Attacke auf eine 15-Jährige auf dem Friedhof in Herne-Holsterhausen sorgte Ende März für viel Aufmerksamkeit und Erschütterung. Drei Jungen im Alter von 12 und 13 Jahren sollen auf das Mädchen losgegangen sein und es bis zur Bewusstlosigkeit mit Tritten traktiert haben. Das Opfer des Angriffs heißt Jess, ist mittlerweile 16 Jahre alt und hat schwere körperliche Schäden davongetragen. „Ich will, dass die ihre Strafe kriegen“, sagt die transsexuelle Jugendliche.
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Jess ist zierlich, ihre schmalen Arme sind angespannt, während sie einen silber-grauen Rollator vor sich herschiebt. In gemächlichem Tempo läuft sie durch den Park, der zu der Reha-Klinik gehört, in der sie derzeit behandelt wird. Sie lässt sich auf einer Bank nieder, ihre Mutter setzt sich zu ihr. Jess‘ Blick wirkt hart. Während sie mit fester Stimme von den Ereignissen der vergangenen Monate erzählt, stolpert sie manchmal über ihre eigenen Worte, so schnell spricht sie. „Langsam, Schatz“, mahnt ihre Mutter Nicole K.
Jess beginnt, zu erzählen: Ende 2021 kommt sie nach Herne, in eine Einrichtung für Jugendliche mit Entwicklungsstörungen. Seit geraumer Zeit hat sie Probleme mit der Impulskontrolle, immer wieder verliert sie die Beherrschung. „In diesen Momenten war ich nicht ich selbst“, sagt sie nun. Häufig streitet sie mit ihrer Mutter. Die Streitpunkte: Mobbing, Körperhygiene, manchmal auch nichts so wirklich. „Wir haben uns wegen allem Möglichem gestritten“, sagt Jess. „Heute tut mir das total leid.“ Zwischenzeitlich wusste Nicole K. sich nicht zu helfen. „Ich habe Jess immer wieder gefragt, wieso sie sich nicht wäscht“, erinnert sich die vierfache Mutter zurück. „So ist ja kein Wunder, dass sie gemobbt wird.“ Was Nicole K. damals noch nicht begreift: Ihr Kind fühlt sich unwohl in seinem Körper, will den Anblick und den Kontakt meiden.
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In Herne erfährt Jess in einer Wohngruppe professionelle Hilfe, soll lernen, mit sich und ihrer Identität umzugehen. „Das hat mich weitergebracht“, sagt Jess. Trotzdem ist ihr Herne fremd. Sie ist weg von ihrem Zuhause, von Familie und Freunden, findet bald falsche. „Ich war einfach nur froh, nicht allein zu sein.“ Sie streunt viel herum, streift durch die Stadt und hängt rum. „Mit den Jungs habe ich mich meistens ganz gut verstanden.“ Ihre Transsexualität ist nur zwischendurch mal Thema, Toleranz gab es keine. „’Wenn man ein Junge ist, ist man ein Junge‘, haben sie gesagt.“
Am 25. März ist Jess abends wieder mit ihren Bekanntschaften unterwegs, vier Jungs im Alter von 12, 13, 13 und 14 Jahren. Einer von ihnen ist „teilzeit-obdachlos“, erzählt Jess. Er soll die Nacht in der gleichen Einrichtung verbringen, in der auch Jess lebt. Nicole K. erinnert sich noch sehr gut an diesen Abend. „Jess hat mir geschrieben, dass sie nicht da schlafen will, weil ein Junge ihr mit Schlägen droht“, sagt sie. Jess habe sie darum gebeten, bei den Betreuern anzurufen, um sie darüber zu informieren. „Das habe ich getan, aber die haben mich beruhigt. Jess würde gerade mit genau dem Jungen draußen stehen und rauchen.“ Sie habe Jess geraten, ihre Tür abzuschließen, dann würde nichts passieren.
Die fünf Jugendlichen laufen durch die Stadt, „alles war ganz normal“, erinnert sich Jess zurück. Drei Tage vorher ist sie mit dem 14-Jährigen aneinandergeraten, hat im Streit seine Mutter beleidigt, er Jess wiederum wegen ihrer Transsexualität. Eigentlich war der Streit schon wieder beigelegt, einer von vielen. „Aber er hat mir gesagt, dass er mich schlagen wird“, sagt Jess. Wieso geht sie trotz der Drohung mit ihm und den anderen raus? „Lieber war ich mit denen unterwegs, als alleine zu sein. Das war dumm.“ Die Stimmung schlägt um, am Friedhof denkt Jess zum ersten Mal darüber nach, dass sie den Vieren hilflos ausgeliefert wäre. Sie denkt über einen Ausweg nach, aber es ist zu spät. „In dem Moment haben sie sich auch schon umgedreht und sind auf mich los.“ Und auch wenn Polizei und Staatsanwaltschaft von drei Angreifern sprechen, ist Jess sich sicher, dass sie von vier Jugendlichen angegriffen wurde. Die nächsten Erinnerungen setzen erst wieder im Krankenhaus ein. Ein Zeuge, der in den frühen Morgenstunden mit seinem Hund Gassi geht, findet Jess und alarmiert den Notruf. „Wahrscheinlich habe ich nur wegen ihm überlebt.“
Mehrere Tage im Koma: Jess ist nach Angriff schwer verletzt
Nicole K. erfährt unterdessen am Vormittag – einige Stunden später –, was ihrer Tochter passiert ist. Am Telefon sagt man ihr, dass ihr Kind schwer verletzt aufgefunden worden ist und nun in einem Krankenhaus sei. „Wir sind sofort hingefahren“, sagt sie. Im Krankenhaus fällt es ihr schwer, den Anblick ihrer schwer verletzten Tochter zu ertragen. „Ich habe sie erst nicht erkannt. Das Gesicht war so breit und lila zugeschwollen.“ Allein am Haar und dem Körper habe sie ihre Jess identifizieren können. „Das war das Härteste, das ich je erlebt habe“, sagt Nicole K. „Und ich habe schon viel erlebt.“
Jess liegt vier Tage im Koma, mehrere Wochen in diversen Krankenhäusern der Umgebung und muss in die Reha. Ob sie jemals wieder vollständig gesund wird, ist noch unklar. Die Verletzungen waren schwer: Hirnblutung, Schädel-Hirn-Trauma, ein angerissenes Ohr, zahllose Hämatome. „Das Sprach- und Erinnerungszentrum ist bis heute beeinträchtigt“, sagt Nicole K. Für ihre Tochter wünscht sie sich erstmal nur eines: Gesundheit. „Es wäre toll, wenn der Zeuge sich meldet. Wir würden uns gerne bedanken.“ Dass die jungen Täter vor dem Gesetz strafunmündig sind, ist Nicole K. unbegreiflich. „Ich werde klagen bis an mein Lebensende.“
Das sagt die Staatsanwaltschaft:
- Die Staatsanwaltschaft Bochum hat die Ermittlungen in dem Verfahren übernommen und erklärt auf Nachfrage: „Gemäß § 19 StGB ist schuldunfähig, wer bei Begehung der Tat noch nicht vierzehn Jahre alt ist. Daher führt die Staatsanwaltschaft keine Ermittlungen gegen Kinder und klagt diese nicht an. Für Kinder, die rechtswidrige Taten begehen, kommen Maßnahmen nach den §§ 1631, 1666 BGB und dem SGB VIII in Frage, für welche das Jugendamt bzw. das Familiengericht zuständig sind.“
- In der gemeinsamen Pressemitteilung des Polizeipräsidiums und der Staatsanwaltschaft Bochum vom 28. März zu dem Angriff wird von „drei jüngeren Hernern“ gesprochen, die einen 15-Jährigen angegriffen haben sollen. Dazu sagt die Staatsanwaltschaft: „Die Zuordnung der geschädigten Person zum männlichen Geschlecht erfolgte aufgrund des seinerzeitigen Kenntnisstandes der Ermittlungsbehörden.“ Außerdem sei anfangs noch die Rede von drei Angreifern gewesen, mittlerweile richte sich der Verdacht laut Oberstaatsanwalt Jan Oelbermann zusätzlich gegen einen 14-Jährigen.
- Hinsichtlich der möglichen Ursache für den Übergriff finden sich laut Staatsanwaltschaft unterschiedliche Darstellungen, „eine belastbare Aussage bzgl. des Tatmotivs ist nicht möglich“.