Hattingen. Mit einer Gedenkveranstaltung erinnert die Stadt Hattingen an die erste Deportation von Juden vor 80 Jahren. Warum sie unter die Haut geht.
Auf den Tag genau vor 80 Jahren – am 28. April 1942 - wurden die ersten Juden aus Hattingen deportiert. Es war eine Fahrt in den Tod. Diese ersten von 25 Bewohnern verloren an dem Tag nicht nur ihre Heimat, sie verloren später auch ihr Leben.
Eine Gedenkveranstaltung an genau diesen historischen Orten, an der auch viele jungen Menschen teilnahmen, hatte Stadtarchivar Thomas Weiß vorbereitet. Mit vielen Mitstreitern, die den Verschleppten Namen und Gesicht gaben. Eine Veranstaltung, die unter die Haut ging und emotional aufwühlte.
Es war keine Gedenkfeier im üblichen Sinne
Hundert Menschen hatten sich am Campingplatz Stolle an der Ruhr eingefunden. Der Ort, an dem sich Hattinger Bürger jüdischen Glaubens sammeln mussten, „um zu ihrer Vernichtung gebracht zu werden“, erinnerte Bürgermeister Dirk Glaser. „Und was noch vor kurzem niemand ahnen konnte, stellt die aktuelle Situation mit dem Krieg in der Ukraine wieder ein ähnliches Grauen dar.“ Niemand wisse bis jetzt, ob nicht auch noch Deutschland in diesen Krieg hineingezogen werde, um die Demokratie zu verteidigen.
Genau das zu tun, aufzustehen und die Demokratie verteidigen, das gilt es auch heute wieder. Daran erinnerten viele Redner. Es war keine Gedenkfeier im üblichen Sinne. Keine Feier, auf der lange Reden gehalten wurden. Sondern eine Zusammenkunft, an der die jüdischen Hattinger Bürger, die vor 80 Jahren zur Vernichtung gebracht wurden, Namen und Gesichter bekamen.
Schülerinnen und Schüler der Realschule Grünstraße zeigten Bilder der Juden, die sich 1942 am jetzigen Campingplatz versammeln mussten. Der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde Bochum-Herne-Hattingen, Grigory Rabinovich, erinnerte daran, dass mit der Deportation das jüdische Leben in Hattingen erlosch.
Sie mussten sich sogar noch ihre Fahrkarte in die Vernichtungslager selber kaufen
Und erst Jahrzehnte später nur langsam wiederkam. Der Tag des Gedenkens an den Holocaust, Jom haScho’a ist ein israelischer Nationalfeiertag und Gedenktag für die Opfer.
Die Stadtgesellschaft hat ein Zeichen gesetzt
An der Gedenkveranstaltung anlässlich der ersten Deportation der Hattinger Juden vor 80 Jahren hat die Stadtgesellschaft teilgenommen. Schüler der Realschule Grünstraße und des Gymnasiums Waldstraße gestalteten mit, Amtsgerichtsdirektor Christian Amann, WAZ-Redaktionsleiter Ulrich Laibacher, die jüdische Gemeinde, die IFAK und viele andere waren mit dabei.Aber auch eine Hattingerin, deren Mutter eng mit einem jüdischen Mädchen befreundet war, das damals als Elfjährige mit dem Zug ins Vernichtungslager fuhr. Immer wieder fragte sich ihre Mutter, was aus ihrer Freundin geworden ist. Auch Künstler Egon Stratmann war dabei. Auch er hat Erinnerungen an die Schreckenszeit. Es wurde klar, wie wichtig es ist, die Demokratie zu verteidigen.
Thomas Weiß erinnerte daran, dass Präsident Frank-Walter Steinmeier vor genau einem Jahr sagte: „Ich wünschte, wir hätten aus der Geschichte gelernt.“ Denn antisemitische Tendenzen gibt ja auch in Deutschland längst wieder. Wie akribisch und perfide die Vernichtung der Juden vor 80 Jahren betrieben wurde, machte der Archivar deutlich. Denn sie waren aufgefordert worden, ihre Koffer zu packen und Sachen mitzunehmen, so dass sie glauben mussten, sie würden nur eine Reise antreten.
Nachdem sie ihre Häuser verlassen hatten – viele wohnten in der Altstadt von Hattingen, hatten dort Eigentum wie beispielsweise das Bügeleisenhaus –, wurden die Wohnungen versiegelt und ihr Hab und Gut später versteigert. „Man hatte damals nichts anderes im Sinn als sich deren Eigentum unter den Nagel zu reißen.“ Das erzählte der Vorsitzende des Heimatvereins, Lars Friedrich. Sie mussten sich sogar noch ihre Fahrkarte in die Vernichtungslager selber kaufen.
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Aufgestanden ist damals kaum jemand gegen so viel Unrecht. Nicht die städtischen Bediensteten, nicht die Presse, nicht die Justiz. Vom Campingplatz Stolle gingen die Teilnehmer der Veranstaltung zu Fuß zum Alten Bahnhof. Genauso wie es vor 80 Jahren die Juden tun mussten. Am Bahnhof wurden die Namen genannt und Bilder der Juden gezeigt, von denen niemand zurückgekehrt ist.
Viele müssen geahnt haben, dass es eine Reise in den Tod werden wird
Von einigen weiß man, wo sie ermordet wurden, in Zamosc zum Beispiel, dem heutigen Polen oder in Theresienstadt, dem heutigen Tschechien. Andere gelten als verschollen. Viele müssen geahnt haben, dass es eine Reise in den Tod werden wird. Denn es gibt Lieder aus der Zeit mit ergreifendem Text, ein klarer Beleg dafür. Diese wurden auf der Veranstaltung vorgetragen.
Thomas Weiß erzählte, dass ein Abteil mit den Juden an einen normalen Zug angehängt wurde, es durfte niemand entwischen. „Und man ließ sich die Übergabe sogar noch quittieren.“
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25 Paten hatte Weiß gefunden für die 25 Hattinger Juden, die deportiert wurden. Sie lasen die Namen vor, es wurden Bilder gezeigt. „Ich habe 25 Personen aus der Stadt angeschrieben, ob sie Paten werden wollen, und es haben 24 gleich zugesagt“, betont Weiß. Das zeige, wie sehr das Thema gerade zurzeit die Menschen bewegt.