Gelsenkirchen. Warnstreik im öffentlichen Dienst: Über 5000 Beschäftigte aus der Region ziehen trotz bitterer Kälte am Donnerstag durch Gelsenkirchen.

Zur Grundausrüstung eines Demo-Teilnehmers gehören normalerweise eine Trillerpfeife, eine Weste in Signalfarbe sowie eine Fahne oder ein Plakat. Am Donnerstag kamen aber auch noch Wollmütze und Handschuhe hinzu. Denn als die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes ihren Warnstreik für einen riesigen Protestzug durch Gelsenkirchens Altstadt nutzten, rieselten bei Temperaturen um den Gefrierpunkt sogar einige Schneeflocken vom Himmel. Die über 5000 Teilnehmenden kämpften aber dennoch mit kalten Fingern und heißen Herzen für ihre Forderungen.

Protestzug startet am Musiktheater im Revier

Es ist 9.15 Uhr, als das Aufbruch-Signal ertönt. Die Gewerkschaft Verdi, die zur Teilnahme am Warnstreik aufgerufen hat, versammelt ihre Mitglieder auf dem Vorplatz des Musiktheaters im Revier. Tausende sind diesem Ruf gefolgt. Sie kommen nicht nur aus Gelsenkirchen. Sondern auch aus Nachbarstädten wie Bochum, Herne, Bottrop, Recklinghausen oder Gladbeck. An der Spitze rollt ein Transportwagen, der eine Musikanlage auf seiner Ladefläche mit sich trägt. Aus den Boxen dröhnen Songs, die zum Mitlaufen motivieren. Und hinter diesem PS-starken Zugpferd reihen sich die Massen ein. Es wird sofort sichtbar: Das sind ganz schön viele!

Sie trotzten der Eiseskälte: Mit Megafon und Protestplakat zogen viele Demonstrationsteilnehmende durch die Altstadt.
Sie trotzten der Eiseskälte: Mit Megafon und Protestplakat zogen viele Demonstrationsteilnehmende durch die Altstadt. © FUNKE Foto Services | Michael Korte

Ziemlich weit vorne im Protestzug laufen Eileen Jorewitz und Susanne Klein mit. Die beiden gehören zum rund 500-köpfigen Team der zentralen Gebäudereinigung in Bochum. Sie machen im beruflichen Alltag Feuerwehrwachen, Kitas, Schul- und Verwaltungsgebäude sauber, bringen aber auch das dortige Kunstmuseum Tag für Tag wieder auf Hochglanz. „Die Arbeitgeber kommen uns bislang überhaupt nicht entgegen“, beklagen beide Frauen. Ihre Arbeit habe sich zudem zuletzt immer weiter verdichtet. Es gelte, in der gleichen Zeit immer mehr Räume zu reinigen. „Dadurch wird es immer stressiger. Und wo wir früher dreimal pro Woche sauber gemacht haben, schaffen wir es jetzt oft nur noch einmal.“

Mitten in der Menge läuft auch Ludwig (62). Seit 15 Jahren arbeitet er als Tiefbau-Ingenieur in Recklinghausen. Nun ist auch für ihn der Moment gekommen, um einmal richtig laut zu werden. Mit festem Blick sagt er: „Meine Rente wird nicht reichen! Ich muss auf jeden Fall noch ein paar Jahre arbeiten. Das mache ich zwar gerne, aber man muss mich auch motivieren. Unsere Arbeit ist etwas wert.“

Polizei regelt an den neuralgischen Punkten den Verkehr

Von der Florastraße biegt die Karawane des Widerstands auf die Ringstraße ein. Zahlreiche Polizeikräfte, unterwegs in Einsatzwagen, auf Motor- und auch Fahrrädern, sichern die Kreuzungen ab. Nicht nur Autos stauen sich zeitweise an den neuralgischen Verkehrspunkten, sondern auch Busse und Bahnen. Doch es gibt keine sicht- oder hörbaren Unmutsäußerungen. Stattdessen erhebt so mancher den Daumen als Zeichen der Zustimmung und der Solidarität mit den Streikenden.

Starke Beteiligung: Über 5000 Menschen zogen am Donnerstagmorgen über die Gelsenkirchener Ringstraße.
Starke Beteiligung: Über 5000 Menschen zogen am Donnerstagmorgen über die Gelsenkirchener Ringstraße. © FUNKE Foto Services | Michael Korte

Darüber freut sich auch Patrick Gutt. Er arbeitet bei den Knappschaft Kliniken in Buer - und zwar als Pfleger in der Notaufnahme. „Von uns machen bestimmt 90 Prozent der Leute beim Streik mit“, sagt er. Mit Blick auf den nicht enden wollenden Protestzug, stellt er zufrieden fest: „Ich hätte vorher nicht gedacht, dass heute so viele mit dabei sind.“

Auch die Azubis stehen bei diesem Streik im Fokus

Ein paar Meter weiter marschiert Viktor Beck. Ihm geht es gar nicht so sehr um die eigene Zukunft, sondern vor allem um die der jüngeren Generation: „Die Azubis sind mir wichtig. Es ist an der Zeit, für sie auf die Straße zu gehen.“ Seit insgesamt 25 Jahren arbeitet er nun schon im öffentlichen Dienst. Entschlossen stellt er fest: „Wenn wir jetzt nichts ändern, sieht es für die nächste Generation düster aus“, warnt er.

Adressatin vieler Protestplakate war Gelsenkirchens OB Karin Welge, die bei diesen Tarifverhandlungen die Arbeitgeberseite anführt.
Adressatin vieler Protestplakate war Gelsenkirchens OB Karin Welge, die bei diesen Tarifverhandlungen die Arbeitgeberseite anführt. © FUNKE Foto Services | Michael Korte

Von der Ringstraße geht es über die Hiberniastraße und vorbei am Verwaltungsgericht auf die Bahnhofstraße. Und es sind nicht wenige Passanten, die erstaunt aufblicken. „Heute ist kein Arbeitstag, heute ist Streiktag“, skandiert eine Frau in ein mitgebrachtes Megafon. Und die Demonstrierenden um sie herum wiederholen diese Parole ebenso oft wie lautstark.

Auch Kita-Kräfte ziehen am Donnerstagmorgen mit - etwa Nicole Jochheim aus Gelsenkirchen. „Die Arbeitsbedingungen bei uns sind so nicht länger tragbar. Es sind viel zu viele Kinder in den Gruppen, dazu gibt es viele verhaltensauffällige Kinder. Und einige sind auch der deutschen Sprache nicht mächtig“, erzählt die Fachkraft, die seit 2008 im Kindergarten arbeitet.

Auch einige Musiklehrer der Musikschule Gelsenkirchen streikten am Donnerstag mit.
Auch einige Musiklehrer der Musikschule Gelsenkirchen streikten am Donnerstag mit. © Thomas Richter

Ein eigenes Banner haben die Streikenden der Musikschule Gelsenkirchen mitgebracht. „Wir sind eine solch kleine Gruppe, dass wir leider oft viel zu wenig Beachtung bei den Streiks erhalten“, betont Peter Werner. Er wohnt selbst hier in der Altstadt, hat bei diesem Streik also eine Art Heimspiel und arbeitet bereits seit 17 Jahren als Musiklehrer in der hiesigen Einrichtung. „Ich vermisse oft die nötige Wertschätzung. Obwohl wir ein abgeschlossenes Studium haben, verdienen wir deutlich weniger als andere Akademiker im öffentlichen Dienst“, fordern Werner und andere Mitstreitende wie Barbara Petzold eine höhere Eingruppierung für ihre Berufsgruppe.

Abschlusskundgebung steigt auf dem prall gefüllten Heinrich-König-Platz

Schließlich erreichen die Streikenden den Heinrich-König-Platz - und damit das erklärte Ziel dieses Protestmarsches. Auf der extra aufgebauten Bühne geben sich diverse Verdi-Vertreter und Personalräte das Mikro in die Hand, halten teils flammende Reden. Darunter auch Detlef Raabe vom Verdi-Bundesvorstand. Er benennt noch einmal die Gewerkschafts-Forderungen in dieser Tarifauseinandersetzung: acht Prozent mehr Gehalt - mindestens aber 350 Euro. Dazu drei Tage mehr Freizeit sowie ein weiterer freier Tag, den aber ausschließlich Gewerkschaftsmitglieder erhalten sollen.

Detlef Raabe (Mitglied im Verdi-Bundesvorstand) gehörte zu den Rednern bei der Abschlusskundgebung auf dem Heinrich-König-Platz.
Detlef Raabe (Mitglied im Verdi-Bundesvorstand) gehörte zu den Rednern bei der Abschlusskundgebung auf dem Heinrich-König-Platz. © FUNKE Foto Services | Michael Korte

Adressatin dieser Forderungen ist Karin Welge, ihres Zeichens Gelsenkirchens OB und als Präsidentin der Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände auch die wichtigste Person auf der anderen Seite des Verhandlungstisches. Natürlich wisse man, dass viele Kommunen in finanzielle Schräglage geraten seien, weil sie vom Bund immer neue, zusätzliche Aufgaben zu übernehmen und zu finanzieren hatten, sagt ein Gewerkschafter. Deshalb forderte er die Einführung einer Vermögenssteuer und eine Verschärfung der Erbschaftssteuer. Das würde zusätzliche Milliarden in die öffentlichen Kassen spülen. „Die reichsten ein Prozent in diesem Land besitzen ein Drittel des gesamten Vermögens“, beklagt er eine immer weiter auseinander driftende Reichtumsschere.

Die Verhandlungen sollen nun am Montag und Dienstag in Potsdam fortgesetzt werden. „Und gibt es dann kein Angebot vom Arbeitgeber“, kündigt ein Gewerkschafter an, „sehen wir uns hier schneller wieder als ihr denkt. Dann aber deutlich länger.“

Zu diesem Zeitpunkt wissen erst die Allerwenigsten, was sich beim vergleichbaren Warnstreik in München ereignet hatte...