Gelsenkirchen. „KiPo“ steht für Kinderpornografie, unendliches Leid. Wie die Gelsenkirchener Polizei gegen riesige Datenfluten und emotionale Strapazen kämpft.
Der letzte spektakuläre Schlag gegen Pädo-Kriminelle gelang der Polizei in Deutschland im Herbst des vergangenen Jahres, als die Ermittler eine große Darknet-Plattform für Inhalte sexuellen Kindesmissbrauchs abschalteten, die von Hunderttausenden Usern genutzt wurde. Berge von Beweismaterial sicherten die Einsatzkräfte, allein die Zahl an Asservate wie Laptops oder Handys lag bei über 1500, sichergestellte DVDs und Videokassetten füllten 94 Umzugskisten. Sieben Männer, mutmaßliche Hintermänner, wurden verhaftet.
Auch in Gelsenkirchen ermitteln Spezialisten zu sexuellem Kindesmissbrauch. Aufgrund der Tatsache, dass immer größere Datenmengen an Missbrauchsmaterial auszuwerten waren, initiierte das Innenministerium NRW, das priorisierte Bearbeiten eben dieser. In der Folge wurde im September 2019 in Gelsenkirchen eine „Besondere Aufbauorganisation“ (BAO) eingerichtet, welche sich seither dieser Herkulesaufgabe widmet – die sogenannte BAO „KiPo“.
Das Kürzel „KiPo“ steht für Kinderpornografie. Ein Begriff, der so im Gesetz steht und sich auch im Sprachgebrauch etabliert hat, der den Kern aber nicht im Geringsten trifft. Warum, das macht Kriminaloberrätin Jessica Bouška gleich zu Beginn des Gesprächs sehr deutlich: „Sprache ist wirklichkeitsbildend. Pornografie setzt Freiwilligkeit voraus, das trifft hier definitiv nicht zu. Jede einzelne Abbildung beinhaltet den sexuellen Missbrauch eines Kindes!“
Zwölf Spezialisten ermitteln in Gelsenkirchen zu Kindesmissbrauch - auch sie unterliegen Kontrollen
Kriminalhauptkommissarin Jessica Mönig ist die aktuelle Leiterin des Gelsenkirchener Ermittlerteams. Es besteht aus zehn Beamtinnen und Beamten sowie zwei IT-Experten, der BAO übergeordnet als Polizeiführerin ist Bouška. Sie ist zugleich die Leiterin der Kriminalinspektion „Polizeilicher Staatsschutz“.
Das Team ist auf dem Gelände des buerschen Polizeipräsidiums in einem separaten Gebäude untergebracht, im Innern teilt ein großer Konferenztisch einen großen Raum, an den einzelne Büros angrenzen. An diesem werden die morgendlichen Besprechungen durchgeführt und beispielsweise auch Schulungsmaßnahmen. Hier befindet sich auch ein separater Rückzugraum, in ihm spenden LEDs warmes, gedämpftes Licht, Liegesessel laden zum Loslassen ein.
„Das Schlimmste sind Videos mit Ton. Beim ersten Anschauen mache ich diesen aus, um mich selbst zu schützen. “
Momente der Ruhe brauchen sie regelmäßig, denn ihre Arbeit ist es, in tiefste menschliche Abgründe zu schauen. „Das Schlimmste sind Videos mit Ton. Beim ersten Anschauen mache ich diesen aus, um mich selbst zu schützen“, sagt Mönig. Schreie in zahllosen Filmaufnahmen, die unendliches Leid dokumentieren.
Für Mönig ist der Kampf gegen Kindesmissbrauch „zur Lebensaufgabe geworden“. Die Hauptkommissarin ist seit kurz nach Gründung der Einheit dabei, freiwillig, wie alle in ihrem Team. Ihre Beweggründe mitzumachen, gleichen denen ihrer Mitstreitenden. „Kinder sind das schwächste Glied innerhalb einer Gesellschaft, sie haben nur eine sehr kleine Lobby“, erklärt die Ermittlerin stellvertretend.
Jeder, der sich für diese Aufgabe zur Verfügung stellt, macht vorher eine Hospitation. Psychologen und Pfarrer begleiten die Polizisten und Computer-Experten, regelmäßig werden Supervisionen durchgeführt – einzeln und verbindlich in der Gruppe. Der Blick von außen auf die Protagonisten hat vor allem das Ziel, Belastungsstörungen zu erkennen, die aus dem Arbeitsalltag erwachsen. Denn die Konfrontation mit sexualisierter Gewalt an Kindern kann ein hohes Maß an emotionalen Strapazen erzeugen - und kann in einer Traumatisierung enden. „Hier haben alle Beteiligten immer ein Auge auf den anderen“, sagt Mönig. Wer verhält sich anders als sonst, und seien es auch nur Nuancen, diese Fragestellung begleitet allgegenwärtig den Dienst.
„Einzelkämpfer gibt es hier nicht“, ergänzt Bouška. Auch führt sie aus, dass die Arbeit der BAO von der gesamten Behörde unterstützt wird. So wird in leistungsstarke Technik investiert, aber auch durch weitere Mitarbeitende unterstützt, wenn große Sachverhalte die Kapazitäten der Mitarbeitenden innerhalb der BAO überschreiten - was sehr oft vorkommt.
Ziel der Gelsenkirchener Ermittler: Kinder vor Zugriff von Tätern zu schützen. Ob diese immer pädophil sind?
Primäres Ziel der Gelsenkirchener Ermittler ist es, Kinder vor dem (weiteren) Zugriff von Tätern zu schützen. Ob diese immer pädophil sind? Spätestens an dieser Stelle wird es komplizierter. „Pädophil zu sein, heißt nicht automatisch, diese Neigung auch auszuleben und Täter sind nicht immer pädophil“, erklärt Bouška.
Pädophilie ist eine Neigung, bei der erwachsene Menschen sich sexuell zu Kindern hingezogen fühlen, die meist noch vor der Pubertät stehen und jünger als elf Jahre sind.
Kindesmissbrauch kennt viele Täterinnen und Täter, beispielsweise Menschen, die traumatisierende Erfahrungen in ihren Familien erlebt haben, unter Persönlichkeitsstörungen leiden, Probleme haben, Empathie zu empfinden, oder dazu neigen, sich und anderen zu schaden. Manche Täter missbrauchen Kinder auch, weil ihnen etwa die sozialen Fähigkeiten fehlen, sexuelle Beziehungen zu Erwachsenen einzugehen. Macht kann ein Motiv sein, ebenso wie finanzielle Interessen.
„Missbrauch findet oft in Familien statt, in denen Kinder ohnehin leben. Bei anhaltendem Missbrauch gibt es zumindest stets eine Beziehung zwischen Opfer und Täter. Mit ein Grund, dass die Opfer schweigen.“
Wichtig ist auch zu wissen: „Missbrauch findet oft in Familien statt, in denen Kinder ohnehin leben. Der Täter kommt also nicht zwingend von außen, beispielsweise aus dem Bekanntenkreis. Bei anhaltendem Missbrauch gibt es zumindest stets eine Beziehung zwischen Opfer und Täter. Mit ein Grund, dass die Opfer schweigen“, so die Kriminaloberrätin weiter.
Die Ermittler unterscheiden grob in zwei Kategorien - „hands-on“, „hands-off“. Letzteres beschreibt sexuelle Handlungen vor dem Kind, aber auch das gezielte Zeigen pornografischer Inhalte. Die Aufforderung an ein Kind, sexuelle Handlungen an sich – etwa vor der Webcam – vorzunehmen, ist sexueller Missbrauch.
Ebenfalls ein Straftatbestand ist der Besitz und die Verbreitung solchen Materials. Genauso wie das sogenannte „Cybergrooming“ - ist die Anbahnung sexueller Kontakte durch Erwachsene, die sich als Gleichaltrige ausgeben, an Kinder und Jugendliche über das Internet.
Stets strafbare Missbrauchshandlungen umfassen sexuelle Handlungen am Körper des Kindes (hands-on) wie zum Beispiel Zungenküsse oder die Berührung der Genitalien sowie schwere Formen sexueller Gewalt wie orale, vaginale und anale Penetration.
So groß war der Gelsenkirchener Missbrauch-Datenberg: 50.000 Stunden an Videos und 225 Millionen Fotos
Seit Einrichtung der BAO KiPo in Gelsenkirchen hat das Ermittler-Team „900 Terabyte Daten über das Bundes- und Landeskriminalamt bekommen – gespeichert auf sichergestellten Laptops, Tablets, Handys, USB-Sticks oder Festplatten“, beschreibt Mönig den Weg und den Umfang des potenziellen Beweismaterials, das sie und ihr Team auszuwerten haben.
Aufbereitet und zugänglich gemacht für die weiteren Ermittlungen werden die Datenträger von den IT-Spezialisten.
Ein Terabyte entspricht in etwa einem 500 Stunden dauernden Video in HD-Qualität oder 250.000 Fotos, die mit einer 12-Megapixel-Kamera geschossen wurden. Umgerechnet bedeutet das für das Gelsenkirchener Material 450.000 Stunden an Videos und 225 Millionen Fotos. Dies sind aber nur Vergleichswerte, um die Dimension etwas anschaulicher zu machen.
„Hinweise auf den Besitz und ggf. die Verbreitung von Missbrauchsabbildungen werden größtenteils aus den Vereinigten Staaten gemeldet“, sagt Bouška. In denUSAgibt es seit 2008 eine Meldepflicht für alles, was mit Missbrauch von Kindern im Internet zu tun hat. Netzanbieter scannen ihre Seiten nach solchen Fotos und Videos und müssen das National Center for Missing and Expoited Children (NCMEC) informieren. Dies informiert dann das Bundeskriminalamt, welches die Fälle in die Landeskriminalämter der jeweils zuständigen Bundesländer steuert.
In Deutschland und in der EU profitieren Kriminelle vom Datenschutz. Ein Grund dafür, warum fast 90 Prozent aller Websites weltweit auf europäischen Servern liegen. „Meldungen über Missbrauchsfälle in Deutschland gehen daher oft auf diese Datensätze der Amerikaner zurück“, so die Kriminaloberrätin weiter.
Kindesmissbrauch: Gelsenkirchener Ermittlerteam schließt 1482 Verfahren erfolgreich ab
Heute, sechs Jahre später, hat sich der Datenberg, vor dem die Gelsenkirchener Ermittler stehen, auf etwa die Hälfte reduziert. Erfolgreich abgeschlossen wurden seit dem Start der BAO bisher 1482 Verfahren mit jeweils sehr unterschiedlichem Ermittlungsaufwand.
Darunter sind Verfahren, die nur einzelne Bilder mit kinderpornografischen Darstellungen enthalten, genauso wie solche, bei denen die Ermittlerinnen und Ermittler Tausende von Bildern und Videos sichten mussten. Es gab in diesem Zeitraum auch Verfahren, bei denen die Millionen-Grenze überschritten wurde.
Im Verfahren werten die Ermittler auch die Chats des Tatverdächtigen aus. Hier kommt es mitunter dazu, dass weitere geschädigte Kinder ermittelt werden oder aber auch z.B. durch Chatgruppen weitere Tatverdächtige im Verfahren ermittelt werden können. In diesen Fällen werden dann weitere Verfahren eröffnet und die Ermittlungen ausgeweitet.
Je höher die zu bearbeitenden Datenmengen und je mehr Beschuldigte und/oder Geschädigte ermittelt werden können, desto zeitintensiver ist die zu leistende Ermittlungsarbeit.
Wettrennen gegen die Zeit: Ausgesetzte Vorratsdatenspeicherung und das Darknet erschweren Polizeiarbeit
Die beiden Frauen können berichten, wie sie bei ihrer Suche nach Tätern und Opfern vorgehen. Aus ermittlungstaktischen Gründen nicht im Detail, denn sonst wüssten es Kriminelle auch. Sie arbeiten beispielsweise immer nach dem Mehraugen-Prinzip, damit bei der Sichtung des Materials kein Kind und kein Täter übersehen wird. Mitunter fokussieren sich fünf, sechs oder mehr Augenpaare auf Einzelheiten, wird eine Sequenz Dutzende Male vor und zurückgespielt.
Eine mögliche Spur ist die Analyse von IP-Adressen, also der Code, mit dem sich Laptop, Smartphone und Co. in das Internet einwählen. Auch das Darknet zählt dazu, ein kleiner Teil des Internets, der nicht auf herkömmliche Weise auffindbar ist. Dort aber ist die Kommunikation verschlüsselt, viele Besucher und Besucherinnen verschleiern ihre Spuren, wodurch Urheber, sowie Konsumenten anonym bleiben. Das macht es für die Ermittler schwer, an sie heranzukommen.
„Wo viel ermittelt wird, wird auch viel gefunden. Missbrauch und die Abbildungen sind ein weltweites Problem und mit der Verbreitung des Internets ist dieses immens gewachsen.“
Weitere Hürde: die in Deutschland ausgesetzte Mindestspeicherung von Telekommunikationsverkehrsdaten (Vorratsdatenspeicherung) – speziell IP-Adressen. Das macht Ermittlungen zu einem Wettrennen mit der Zeit.
Neben starken Rechnerkapazitäten, die einem kleinen Rechenzentrum ähneln, „spielt Künstliche Intelligenz (KI) eine wichtige Rolle“, sagt Mönig. KI hilft unter anderem, Ordnung in dem wuchernden Datendschungel zu schaffen. Etwa um einordnen zu können, ob es sich um bereits „bekanntes Material“ zu einem Kindesmissbrauch handelt, „um einen Konsumenten“ oder gar einen Täter, der eigenes „Material“ erstellt und womöglich noch Zugriff auf ein Kind hat.
„NRW wird öffentlich als besonders belastet wahrgenommen, was den sexuellen Missbrauch von Kindern angeht, Fakt ist jedoch, dass die Bekämpfung dieses Kriminalitätsbereichs politisches Ziel von NRW ist und wo viel ermittelt wird, wird auch viel gefunden. Missbrauch und die Abbildungen sind ein weltweites Problem und mit der Verbreitung des Internets ist dieses immens gewachsen“, so Bouška.
Rätsel um die Identität eines blonden Mädchens gelöst - Erleichterung, Lachen und auch Tränen
Bouška, Mönig und die anderen Ermittler versuchen, ihre Arbeit möglichst entkoppelt von den eigenen Gefühlen zu sehen, denn „Mitleid schützt die Kinder nicht vor Missbrauch“.
Kalt lässt sie ihre Tätigkeit natürlich nicht. Besonders dann nicht, wenn klar ist, dass ein Missbrauch noch anhalten könnte. So wie im August 2023, als die Polizei bei ihren Ermittlungen gegen einen Mann nach einem blonden Mädchen suchte, das schwer missbraucht worden war. Die Identität des Mädchens lag im Verborgenen, dazu das Umfeld, in dem es lebte. Nur so viel stand fest: Das Bildmaterial entstand wahrscheinlich im August 2017 an einem damals unbekannten Ort in Deutschland. „Die ganze Dienststelle hat quasi rund um die Uhr an dem Fall gearbeitet, eine Woche lang“, erinnert sich Mönig.
Der Fall konnte gelöst, das Mädchen gefunden und der Täter später verurteilt werden. Erleichterung, Lachen und auch das ein oder andere Tränchen wurde verdrückt – aus Freude. „Auch solche Erfolge motivieren, immer weiterzumachen“, sagen die beiden Polizistinnen.
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