Gelsenkirchen. Neues Puppentheater-Stück des Gelsenkirchener Musiktheaters im Revier will schwieriges Thema für junge Leute greifbar machen, ohne zu verstören.

Der Mord an mindestens sechs Millionen Juden durch die Tyrannen der Nazi-Zeit gilt bis heute als größtes Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Doch wie lässt sich das Unfassbare, das Unaussprechliche für jüngere Generationen greifbar und zumindest ein Stück weit nachempfindbar machen, ohne sie vollständig zu verstören?

Ein Theater-Vormittag der eindringlichen Sorte wartet aufs Publikum

Eine Antwort auf diese wichtige Frage gab Jens Raschke mit seiner im Jahr 2014 veröffentlichten Geschichte „Was das Nashorn sah, als es auf die andere Seite des Zauns schaute“. Das gleichnamige Theaterstück für alle ab elf Jahren feiert in der Inszenierung von Regisseurin Ania Michaelis an diesem Freitag, 17. Januar, im Kleinen Haus des Musiktheaters im Revier (MiR) Premiere. Und das Publikum darf sich, so viel lässt ein Probenbesuch bereits erahnen, auf einen Vormittag der eindringlichen Sorte gefasst machen.

Regisseurin Ania Michaelis zeichnet für die Gelsenkirchener Inszenierung des neuen Puppentheaterstücks „Was das Nashorn sah, als es auf die andere Seite des Zauns schaute“ verantwortlich.
Regisseurin Ania Michaelis zeichnet für die Gelsenkirchener Inszenierung des neuen Puppentheaterstücks „Was das Nashorn sah, als es auf die andere Seite des Zauns schaute“ verantwortlich. © FUNKE Foto Services | Michael Korte

Die Handlung ist in einem kleinen Zoo angesiedelt, der sich während des Zweiten Weltkriegs in unmittelbarer Nähe des Konzentrationslagers Buchenwald befand und historisch verbrieft auch tatsächlich existiert hat. Er war gedacht als Unterhaltungs- und Ablenkungsangebot für das Lagerpersonal, das dort lebte und systematisch mordete. „In diesem Zoo soll es damals Bären, Affen, Schwäne und Enten gegeben haben“, berichtet Regisseurin Michaelis. „Und ein KZ-Insasse, der überlebt hatte, berichtete nachher auch von einem Nashorn.“

Das Grauen der NS-Tötungsmaschinerie wird auf subtilem Wege angedeutet

Obwohl es im Titel auftaucht, spielt dieses Tier im Stück gar nicht mit. Es wird nur ständig über den verstorbenen Koloss geredet. Das erledigen die anderen tierischen Insassen. Wie der Pavian. Oder das Faultier. Und sie erzählen alles Wissenswerte dem gerade erst eingetroffenen Bären, der seine neue Umgebung aber so gar nicht erkennen und verstehen will. Denn in dem Lager der Menschen, das an seine Heimat angrenzt, werden alle Gefangenen, die hier wegen ihrer Sträflingsuniformen nur „die Gestreiften“ heißen, von „den Gestiefelten“ geknechtet, geschlagen und gedemütigt. Und wenn der Bär laut fragt, woher der fürchterliche Gestank komme und was das für ein seltsamer grauer Rauch sei, der da aus den Schornsteinen einiger Baracken ins Freie dringt, dann wird auch das Grauen der Tötungsmaschinerie im KZ auf subtilem Wege zumindest angedeutet.

Auch ein Mufflon gehört zu den Zoo-Bewohnern. Puppenspieler Daniel Jeroma erweckt es auf der Bühne des Musiktheaters im Revier zum Leben.
Auch ein Mufflon gehört zu den Zoo-Bewohnern. Puppenspieler Daniel Jeroma erweckt es auf der Bühne des Musiktheaters im Revier zum Leben. © FUNKE Foto Services | Michael Korte

„Die Geschichte wird ganz bewusst aus der Perspektive der Zoo-Tiere erzählt“, berichtet Michaelis im WAZ-Gespräch vor dem Probenbeginn. Dieser Verfremdungseffekt lasse es eben zu, sich einem solch schwierigen Thema anzunähern und es für Kinder und Jugendliche zugänglich zu machen. „Für viele junge Leute wird dieses Stück der erste Kontakt mit dem Zivilisationsbruch sein, der sich damals ereignet hat. Hier wird nichts vollumfänglich erklärt. Es dient aber optimal als erster Zugriff“, erklärt die Regisseurin.

Rollen der Zoo-Tiere werden von extra angefertigten Puppen übernommen

Der Kniff ist, dass alle tierischen Rollen von Puppen übernommen werden. Diese rund 40 Zentimeter hohen Tischfiguren wurden von der Spezialistin Lili Laube allesamt extra nur für dieses Stück angefertigt. Und die Puppenspieler des MiR-Puppentheaters, Gloria Iberl-Thieme, Daniel Jeroma und Maximilian Teschemacher, schaffen es durch ihre beeindruckende Technik wieder einmal eindrucksvoll, ihre tierischen Mitspieler zum Leben zu erwecken. Das beweisen sie etwa in der Szene, als der Bär über einen zugefrorenen See tapst - oder besser gesagt: schlittert. Einfach nur ein großer Spaß.

Denn auch das will dieses Stück: unterhalten, zum Lachen bringen, aber auch junge Menschen zu aktivem Hinschauen und Eingreifen ermutigen und die Wichtigkeit von Zivilcourage aufzeigen. Das sei in Zeiten wie diesen von immenser Bedeutung, findet Michaelis. „Scheinbar überall in der Welt blüht derzeit der Faschismus auf“, sagt sie. Deshalb sei es gut und wichtig, dass das MiR mit dieser Produktion dem einmal mehr etwas entgegensetzen wolle.

Videokamera überträgt Live-Bilder auf das Riesentuch im Hintergrund

Neben den Puppen gibt es noch weitere Besonderheiten: Clarissa Schmitt oder Ange Sierakowski werden mit den Klängen ihrer Bassklarinette auf der Bühne für eine passende, mystische Live-Musikuntermalung sorgen, die aus der Feder von Matthias Bernhold stammt. Und mit Hilfe einer Videokamera wird das Geschehen auf der Bühne auf ein Riesentuch übertragen, das auf der Bühne den Hintergrund bildet.

Zielpublikum seien natürlich vor allem Kinder ab elf und Jugendliche, räumt Regisseurin Michaelis ein. „Doch dieses Stück funktioniert auch für alle anderen Besucher.“

Daten und Fakten zum neuen Stück

Nach der Premiere am 17. Januar um 10 Uhr folgen bis zum 15. März noch acht weitere Vorstellungen, die allesamt am Vormittag um 10 Uhr oder Nachtmittag um 16 Uhr beginnen. Auch für Schulklassen eignet sich der Stoff bestens.

Karten kosten 20 Euro (ermäßigt: zehn) und sind erhältlich an der Theaterkasse am Kennedyplatz oder unter 0209 40 97 200. Alle weiteren Infos im Netz: www.musiktheater-im-revier.de.