Gelsenkirchen. Eine langjährige Gelsenkirchener Kinderärztin schlägt Alarm: „Die Bevölkerung ist sich in keiner Weise bewusst, wie prekär die Lage ist.“
- Dr. Katharina Walter hat im Jahr 2013 in Gelsenkirchen ihre Praxis für Kinder- und Jugendmedizin übernommen.
- Sie schildert unzumutbare Zustände aus ihrem Praxis-Alltag.
- In den vergangenen zwei Jahren habe sich nach ihrer Aussage die Situation noch weiter verschärft.
Mit drastischen und mitunter sehr kritischen Worten hat sich die alt eingesessene Gelsenkirchener Kinderärztin Dr. Katharina Walter an unsere Lokalredaktion gewandt – und sie erhebt teils schwere Vorwürfe. Der Frust bei der Ärztin für Kinderheilkunde, die im Jahr 2013 ihre Praxis für Kinder- und Jugendmedizin mit dem Schwerpunkt Kinderkardiologie übernahm, sitzt anscheinend tief. Katharina Walter mahnt: „Die Bevölkerung ist sich ja in keiner Weise bewusst, wie prekär die Lage ist.“
Gelsenkirchener Kinderärztin schlägt Alarm: „In keiner Weise bewusst, wie prekär die Lage ist“
Bereits vor zwei Jahren stand die Redaktion schon einmal in Kontakt mit der Ärztin, schon damals schilderte Walter die teils unzumutbaren Zustände in ihrem Praxis-Alltag, schon damals hatte sie das Problem, Mitarbeiterinnen zu bekommen. Die Situation Ende 2022 beschrieb Walter wie folgt: „Gegebenenfalls muss die zweite Mitarbeiterin ins Beschäftigungsverbot – schwangerschaftsbedingt – und es gibt keinen Ersatz. Ich weiß nicht, wie ich es machen soll.“
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Zwei Gründe führte Walter damals ihrer Einschätzung nach an: Zum einen seien da die Krankenhäuser, die „gezielt den Mangel an Krankenschwestern durch medizinische Fachangestellte im großen Stil auffüllen.“ Ein weiterer Grund: Dass sich die „Mitarbeiterinnen dem ,Druck‘ der Straße/Patienten/Eltern zunehmend nicht mehr gewachsen fühlen. Ich kann mich dabei nicht ausnehmen.“
Kinderärztin aus Gelsenkirchen findet weiterhin keine Angestellten
Heute sagt die Medizinerin: „Wir finden weiterhin keine Angestellten, die Lage ist schlimmer als vor zwei Jahren.“ Und im nächsten Satz fügt sie hinzu: „Ich sehe es mittlerweile so, dass es nur zum Teil ein Problem des Fachkräftemangels ist, es ist ein Problem des Nicht-arbeiten-Wollens.“ In den vergangenen zwei Jahren habe es gleich mehrere Personen gegeben, die sich auf die freien Stellen beworben hätten. Es hätte alles gestimmt, die Stundenanzahl, die Arbeitszeit, das Gehalt – und doch: „Teilweise haben sie einen Arbeitsvertrag unterzeichnet und dann kommen sie einfach nicht, ohne abzusagen meist.“
Ihrer Erfahrung nach beziehen die Bewerberinnen und Bewerber lieber Sozialleistungen, als arbeiten zu gehen. „Sie sagen es mir ins Gesicht, mit Bürgergeld habe ich mehr“, berichtet Katharina Walter. Durschschnittlich verdienen MFA laut Ärztekammer Nordrhein rund 2900 Euro brutto im Monat. Die Ärztin geht sogar noch einen Schritt weiter und kritisiert andere Stellen: „In meinen Augen ist es ein Versagen der Behörden, vorne weg des Arbeitsamtes. Die Menschen werden nicht in Arbeit gebracht. Wer morgens aufsteht, um zur Arbeit zu gehen, wird mittlerweile als „doof“ betrachtet.“ Ihr sei zu Ohren gekommen, dass es mittlerweile schon Praxen gebe, die schließen mussten, weil sie keine Mitarbeiter hätten. Viele hätten nachmittags geschlossen. „Ich bin immer wieder kurz davor“, sagt Walter.
Alltag in Gelsenkirchener Arztpraxis: „Das ständige Gemecker über Wartezeiten zermürbt alle“
„Hinzu kommt, dass die Patienten fordernd sind und auftreten“, führt die Pädiaterin weiter an. Ein Beispiel: „Das ständige Gemecker über Wartezeiten zermürbt alle. Es geht aber nicht ohne Wartezeiten, ich kann das alles wirtschaftlich erklären.“ Dass es sich überhaupt noch lohne, sei nur eine Frage der Zeit. Eine Gesellschaft, die nur fordere, („Ich komme jetzt und sofort dran und der Arzt hat 10 Minuten Zeit für mich..“), aber nichts zurückgebe („Nachmittags kann ich nicht arbeiten und vor 9 Uhr morgens auch nicht“ („Originalton“), kann in Walters Augen nicht funktionieren.
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Eine weitere Erkenntnis von Katharina Walter: Die Mitarbeiterinnen am Empfang würden es „nicht länger als zwei Jahre aushalten, dann kündigen sie und gehen oft in andere Bereiche.“
Bei all den Widrigkeiten trifft die Ärztin eine Aussage, die ernüchtert: „Die Wahrscheinlichkeit, dass in Gelsenkirchen ein Kinderarzt eine Praxis übernimmt, geht gegen Null.“
Dass das eigentlich nicht hinnehmbar sein kann, zeigen Zahlen aus dem Jahr 2023, genauer von Februar 2023, die auch heute noch aktuell sind: Von den 23 vorhandenen Kinderärzten in Gelsenkirchen waren vor anderthalb Jahren fünf älter als 64 Jahre, zehn sind über 60. Bei mehr als der Hälfte der Kinderärzte ist also in den nächsten Jahren mit einem Wechsel in den Ruhestand zu rechnen. Nur zehn der aktiven Kinderärzte und Kinderärztinnen in Gelsenkirchen sind jünger als 50 Jahre.