Gelsenkirchen. Ben versteckte seine Sucht monatelang - bis es nicht mehr ging: Er landete mit einer Psychose in der Psychiatrie. So geht seine Mutter damit um.

  • Nach exzessiven Drogen-Konsum entwickelte ein Abiturient Angst- und Wahnzustände
  • Seine Mutter durchlebte mit ihm schlimme Momente, bevor ihm in einer Psychiatrie geholfen werden konnte
  • So geht die Gelsenkirchenerin (46) mit der Sucht ihres Sohnes um

Drogen? Anna Müller ist nicht naiv. Ihr war klar, dass ihr Sohn irgendwann damit in Kontakt kommen würde. Also begann sie schon früh, mit ihm darüber zu sprechen. „Ich wollte ihm nichts verbieten, damit das Zeug nicht noch reizvoller wird. Deshalb habe ich ihn auf die Gefahren aufmerksam gemacht in der Hoffnung, dass er die Finger davon lässt oder es zumindest nicht übertreibt“, so die Bulmkerin. Beides ging nicht auf: Der Abiturient Ben (Namen von der Redaktion geändert) landete vor Kurzem nach exzessivem Cannabis-Konsum mit Wahnvorstellungen und Angstzuständen in einer geschlossenen Psychiatrie. Es waren mit die schlimmsten Wochen im Leben seiner Mutter.

Die 46-Jährige - ungeschminkt, in rustikalem Wollpullover und Jeans - wirkt ernst, aber gefasst, als sie in der Drogenberatungsstelle an der Weberstraße ihre Geschichte erzählt. Zehn Kilogramm hat sie in den vergangenen Wochen abgenommen und wieder mit dem Rauchen angefangen. „Es hat mir körperliche Schmerzen bereitet, mein Kind so zu sehen“, sagt sie und streicht sich die dunkelblonden Naturlocken hinters Ohr.

Sohn (20) gelang es monatelang, seine Drogensucht vor den Eltern zu verstecken

Ben (20) begann mit dem Drogenkonsum offenbar Anfang des Jahres, ohne dass die geschiedenen Eltern etwas davon bemerkten. „Er lebte damals in der Nachbarstadt bei seinem Vater. Es konnten schon mal ein paar Wochen vergehen, ohne dass wir Kontakt hatten. Aber er ist ja in einem Alter, in dem man sich abnabelt, also wollte ich nicht wie eine Helikoptermutter dastehen und ihn mit Anrufen nerven.“

Als gelernte Tischlerin in einer Werkstatt für Orthopädie-Technik beschäftigt, hatte sie ihren eigenen (Berufs-)Alltag, ebenso wie der Vater des Jungen. „Dadurch ist es Ben ganz gut gelungen, die Joints vor uns zu verstecken - und seine Persönlichkeitsveränderung auch.“

Gelsenkirchener Mutter: Offenbar setzte ihm die berufliche Unsicherheit so zu, dass er zu Drogen griff

Drogenberatung
Bei der Drogenberatungsstelle Gelsenkirchen an der Weberstraße in der Neustadt fanden die Gelsenkirchenerin und ihr Sohn Rat und Hilfe. © FUNKE Foto Services | Michael Korte

Anna Müller räumt offen ein, dass in der Ehe nicht alles rund lief. Die Trennung habe den damals Sechsjährigen zweifellos getroffen. „Aber wir haben uns beide weiter genauso liebevoll um ihn gekümmert wie zuvor und hatten immer ein offenes Ohr, sowohl in den ersten Jahren, als er bei mir lebte, als auch später, nachdem er zu seinem Vater gezogen war“, betont sie.

Ben schien auf gutem Weg, nachdem er das Abi in der Tasche hatte. Weil er noch nicht wusste, ob er eine Ausbildung beginnen oder studieren sollte, nahm er zunächst einen Aushilfsjob im Einzelhandel an. Dass die berufliche Unsicherheit ihm offenbar massiv zusetzte, ebenso wie die Trennung von seiner langjährigen Freundin, überspielte er. „Es war ihm unangenehm. Wie er uns später erzählt hat, wollte er uns nicht belasten.“

Verfolgungswahn, Angstzustände und Verwirrtheit wechselten sich ab

Mutter eines Drogenabhängigen hofft auf Heilung
Die Gelsenkirchener Drogenberaterin Barbara Röhrig (l.) weiß nur zu gut, wie sehr die Sucht eines Menschen die Familien aus der Bahn wirft. In Gesprächen versucht sie sowohl für die Abhängigen als auch für die Angehörigen da zu sein. Foto: Michael Korte / FUNKE Foto Services © FUNKE Foto Services | Michael Korte

In dieser Zeit muss Ben immer häufiger und immer höhere Dosen gekifft haben, zuletzt wohl mehrmals am Tag. „Er wurde immer unruhiger, kündigte von jetzt auf gleich seine Stelle, schloss aus dem Moment heraus ein Jahres-Abo im Fitnessstudio ab... Also entschieden sein Vater und ich, dass Ben das Wochenende über bei mir bleiben sollte, damit auch ich mir ein Bild machen konnte.“

Jene drei August-Tage von Freitag bis Sonntag, sie waren „schlimm“, berichtet Anna Müller, und es ist deutlich zu spüren, dass sie um eine sachliche Darstellung ringt. „Mal war er so aggressiv, dass ich fast einen Gewaltausbruch fürchtete, dann völlig verängstigt. Er wusste nicht mehr, welches Jahr wir hatten und konnte die Uhr nicht mehr lesen, bezog Gespräche von wildfremden Leuten auf sich und fühlte sich verfolgt. Und dann stellte er sich vor das geöffnete Fenster und behauptete, er sei ein Adler. Ich hatte wirklich Angst, er würde springen...“

Gelsenkirchenerin: Psychopharmaka holten Sohn in die Wirklichkeit zurück, machten aber müde

Die 46-Jährige war schließlich genauso erschöpft wie ihr bleicher, schlafloser Sohn. Es war klar: Ben brauchte professionelle Hilfe, und zwar schnell. Nach schier endlos wirkenden Telefonaten am Montagmorgen gab die Psychiatrie in einer Nachbarstadt schließlich grünes Licht, ihn zu untersuchen und gegebenenfalls wegen Selbstgefährdung stationär aufzunehmen. „Dort hörten wir dann zum ersten Mal die Diagnose Psychose, entstanden augenscheinlich durch exzessiven Drogenkonsum.“

Eine Woche blieb Ben in der geschlossenen Abteilung, wo ihn die Mutter täglich besuchte, auch der Vater war regelmäßig dort. „Durch die Psychopharmaka und Beruhigungsmittel klangen die äußeren Symptome der Psychose nach einigen Tagen ab, aber er war müde und antriebslos. Das wurde zwar besser, als er in die offene Abteilung wechselte. Aber erst als die Medikamente reduziert wurden, wurde er allmählich wieder er selbst“, erzählt seine Mutter.

Gelsenkirchener Drogenberaterin: Sucht ist nicht heilbar

Mutter eines Drogenabhängigen hofft auf Heilung
Drogenberaterin Barbara Röhrig von der Gelsenkirchener Drogenberatungsstelle will Abhängige in jeder Phase kompetent begleiten. Auch deren Angehörige betreut sie auf Wunsch. © FUNKE Foto Services | Michael Korte

Mittlerweile ist Ben wieder zu Hause bei seinem Vater und seiner Mutter im Wechsel, körperlich entgiftet, aber nicht mehr der junge Mann, der er vorher war. „Er ist ernster, nachdenklicher. Kein Wunder, die Probleme, weswegen er gekifft hat, werden ihm nun wieder bewusst.“

Motiviert von seiner Mutter, geht er einmal wöchentlich zur Drogenberatung und hat sich in Gesprächen mit Fachbereichsleiterin Barbara Röhrig dazu entschlossen, eine sechsmonatige stationäre Entwöhnungsbehandlung zu beantragen. „Dabei geht es um eine Rückfall-Prophylaxe. Ben erlernt dort Strategien, wie er sich verhalten kann, wenn der Suchtdruck zurückkehrt“, erläutert die psychosoziale Begleiterin im Kontaktzentrum und spricht offen aus, was Eltern wie Betroffene eigentlich nicht hören wollen: „Abhängigkeit ist nicht heilbar, sondern eine chronische Krankheit.“ Allerdings könne man erlernen, gut mit ihr zu leben.

Ein weiterer Joint reicht, um erneut eine Psychose auszulösen

Dass Ben genau das wolle, zeige sein Entschluss, sich für ein halbes Jahr noch einmal behandeln zu lassen, lobt Barbara Röhrig. Anna Müller weiß das zu schätzen. Doch die Angst, dass Ben rückfällig werden könnte „und dann möglicherweise sein ganzes Leben wegwirft“, sie verschwindet nicht völlig. Nach wie vor gilt Bens Wohlergehen fast jeder Gedanke, auch wenn sie sich selbst immer wieder ermahnt, nicht zu emotional zu reagieren.

Die Ärzte in der Klinik haben der Familie deutlich zu verstehen gegeben: Ein einziger weiterer Joint kann eine zweite Psychose auslösen, die dann womöglich nicht so glimpflich verläuft. „Außerdem leidet die Intelligenz bei jedem Schub...“ Als Eltern könnten sie nur appellieren, „dass er weise entscheidet, was er tut.“ Letztlich seien ihnen aber die Hände gebunden. Auch deshalb nutzt sie die Möglichkeit, sich als Angehörige eines Abhängigen selbst in der Drogenberatungsstelle mit Fachleuten auszutauschen, damit die Erkrankung ihres Sohnes nicht ihr ganzes Leben dominiert. Röhrig: „Eltern müssen lernen, ihre abhängigen Kinder loszulassen. Das heißt ja nicht, dass sie sie fallen lassen...“

Infos und Hilfe: Drogenberatungsstelle und Kontaktcentrum, Weberstraße 77, Telefon 0209 / 51783-23 (www.drogenberatung-kc.de). - Barbara Röhrig hat 2019 unter ihrem früheren Nachnamen Austermann-Carl ein Buch zum Thema geschrieben: Junkie, Kiffer, Freak?! Menschenbilder. Ein Mut-mach-Buch für Betroffene: Ein Plädoyer für die Novellierung der Umgangsweise mit Drogenabhängigen. Als Taschenbuch (ISBN 978-1705924709) kostet es 14,95 Euro, als E-Book 9,99 Euro.

Hinweis: Dieser Artikel erschien erstmals am 1. Dezember 2024.

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