Gelsenkirchen-Altstadt. Aufgabe oder Friedensangebot? Warum über Gelsenkirchens ältester Apotheke die weiße Fahne flatterte. Ein Rück- und Ausblick zum 150-jährigen Stadtjubiläum.
Wenn die weiße Fahne über der alten Kohlenhandlung wehte, dann streckte Eduard Schramm sofort die Waffen. Der Arzneimittelhändler ging nicht nur regelmäßig mit einem befreundeten Bauern in den umliegenden Wäldern und Feldern auf die Pirsch, sondern nannte auch Gelsenkirchens erste Apotheke sein Eigen.
Schlangen vor dem Geschäft suchte man damals noch vergeblich, im Einzugsgebiet des Dorfes wohnten gerade einmal 600 Menschen. Schramms Frau war allerdings sehr pragmatisch und kam daher auf die Idee: Steht doch mal ein Patient auf der Matte, so kann sie ihrem Mann mit dem flatternden Banner signalisieren, sich aus der Deckung des Unterholzes zu trollen und Janker gegen Kittel zu tauschen.
„Alte Apotheke“ in Gelsenkirchen blickt auf eine 186-jährige Geschichte - Sorgen überdauern die Zeit
Acht Jahre des Bittens und Bettelns waren nötig, um den Kampf gegen den schon damals trägen und hartnäckigen Amtsschimmel zu gewinnen. Jahre, in denen stundenlange Fußmärsche über Stock und Stein nötig waren, um ein Rezept vom zuständigen „Kreisphysikus“ (so hießen früher Ärzte) und die benötigten Medikamente in der Nachbarschaft, etwa in Bochum, zu besorgen. Das geht aus alten Gesuchen an die Regierung in Arnsberg hervor, die 1830 mit der „gehorsamsten Bitte wegen Anlegung einer Apotheke“ von Gemeinderat Georg Herbert ihre Anfänge nahm. Seinerzeit verband noch keine Straßenbahn Orte und Menschen, auch das Auto war noch nicht erfunden.
Heute, 186 Jahre, zwölf verschiedene Inhaber und zwei Umzüge später, gibt es die „Alte Apotheke“, immer noch. Nicht mehr an ihrem Stammsitz an der ehemaligen Hauptstraße (heute Hauptstraße 31), dafür aber nach Neumarkt 3 und 4 an der Bahnhofstraße 19. Seit 2007 führen Filiz und Jamal Aoulad Ali dort die Pharmazie weiter. Die Apotheke aus dem Jahr 1838 ist nach Eisen Koch (1797) das älteste Geschäft in Gelsenkirchen.
Die Nöte von damals ähneln denen von heute. Wie seinerzeit Gemeinderat Herbert sorgen sich die beiden approbierten Apotheker um „die Versorgung der Patienten“. Vor fast 200 Jahren war es neben den weiten Wegen und dem krankheitsfördernden Sumpfland vor allem der Umstand, dass die Arzneien, die der „Kreisphysikus“ Th. Vallender im Notfall selbst herstellen durfte, lange Wartezeiten und hohe Kosten nach sich zogen. In dringenden Fällen und für viele ärmere Familien ein Problem.
Heute sind es der wirtschaftliche Druck und neue Gesetzesvorhaben, die Apothekern wie den Aoulad Alis Kopfzerbrechen bereiten und auch Existenzängste befördern. „Die Arzneimittelpreise steigen, die Mieten sowie die Personal- und Nebenkosten auch, nur unsere Honorare nicht; und das seit rund zehn Jahren nicht mehr“, erklärt das Ehepaar, das sich während des Studiums in Düsseldorf kennen- und liebengelernt hat. Folge: „Obwohl wir selbstständig sind, liegen wir mit unseren eigenen Löhnen nah am Gehaltsniveau unserer Angestellten.“
Das verdient ein Apotheker an einem Medikament
Pro verschreibungspflichtiger Medikamentenpackung bekommt ein Apotheker eine prozentuale Vergütung von drei Prozent auf den Apothekeneinkaufspreis. Dazu kommen noch 8,35 Euro Apothekenhonorar (immer 8,35 Euro je Medikament, unabhängig vom Preis) und ein Zwangsabschlag für die Krankenkasse nebst Mehrwertsteuer in Höhe von 1,49 Euro.
Eine Beispielrechnung: Angenommen, ein Medikament hat einen Einkaufspreis von 73,32 Euro und einen Abgabepreis von 100 Euro, inklusive 19 Prozent Mehrwertsteuer. Die allein sind schon 15,97 Euro. Dann beläuft sich der Verdienst auf 9,06 Euro - und zwar gebildet aus der Summe von 2,20 Euro aus der prozentualen Vergütung (3 Prozent von 73,32 Euro Einkaufspreis) plus 8,35 Euro Honorar und minus 1,49 Euro Zwangsabschlag.
Ein Patient muss hier eine Zuzahlung von 10 Euro leisten. Die erhält die Krankenkasse.
Nach Angaben Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände betrug das durchschnittliche Betriebsergebnis von Apotheken 162.890 Euro im Jahr 2022. Rund 80 Prozent des Umsatzes geht auf verschreibungspflichtige Arzneien zurück.
Filiz und Jamal Alouad Ali betreiben neben der Apotheke an der Bahnhofstraße noch die Hans-Sachs-Apotheke gegenüber der Stadtverwaltung. Mit ihnen zusammen sind insgesamt 20 Beschäftigte von den Umsätzen der Filialen abhängig. Täglich steuern ihre Apotheken etwa 300 bis 400 Kunden an. Seit Einführung des E-Rezeptes haben sie bemerkt, dass ein nicht unerheblicher Teil der Patienten die Apotheke neben dem Ärztehaus unverrichteter Dinge wieder verlässt. „Weil Ärzte es vergessen, das E-Rezept zu signieren, dieses oft erst später machen, weil sie während ihrer Arbeit nicht dazu kommen.“ Heißt: Die Kunden werden anderswo ihr Geld los.
Das kann eine vorübergehende Erscheinung sein, möglicherweise nicht aber das Gesetzesvorhaben von Gesundheitsminister Karl Lauterbach, das bald im Bundestag debattiert wird und im Januar 2025 in Kraft treten soll. Der SPD-Politiker will die Struktur und die Vergütung der Apotheken reformieren. Die Vertreter der Apothekerschaft laufen gegen diese Pläne Sturm. Das Apotheker-Paar selbst spricht ebenfalls von einer „bedrohlichen Reform“.
Auch Filiz und Jamal Aoulad Ali sehen ihren Berufsstand in Gefahr, Apotheken zu „Abgabestellen auf niedrigstem Niveau“ degradiert, wenn das Gesetz tatsächlich umgesetzt wird. Eine Apotheke ohne Apothekerin oder Apotheker - quasi die Apotheke light - ist für sie „der falsche Weg“. Vor allem, wenn es um „die fachliche Einschätzung von Nebenwirkungen und Wechselwirkungen von und mit anderen Medikamenten“ geht.
Der Streit dreht sich vor allem um diese Frage: Sollen Apotheken im Filialverbund in einer versorgungsschwachen Region auch dann öffnen können, wenn keine Apotheker vor Ort sind, sondern nur pharmazeutisch-technische Assistenten (PTA). Diese haben im Gegensatz zu Apothekern nicht studiert, sondern eine 2,5-jährige Ausbildung absolviert. Zwar beraten die PTA Kunden schon jetzt zur Einnahme von Medikamenten und geben verschreibungspflichtige Arzneimittel ab – allerdings immer unter Aufsicht eines Apothekers, der sie bei besonderen fachlichen Fragen unterstützen kann.
Inhaber und Standorte der „Alten Apotheke“
Standorte:
1838: Hauptstraße 31
Ab 1876: in einem „Neo-Renaissance“-Haus am Neumarkt 4
1925 - 1955: Nachbarhaus der Commerzbank am Neumarkt 3
Seit 15. Mai 1955: Bahnhofstraße 19
Inhaber:
4. September 1838 - 4. Mai 1864 Eduard Schramm
4. Mai 1864 - 17. August 1871 Julius Kannengießer
17. August 1871 - 20. Februar 1878 Karl Fluegel
20. Februar 1878 - 6. Januar 1879 Wilhelm Bernhard Büsing
6. Januar 1879 - 20. Mai 1888 Franz Jacobs
20. Mai 1888 - 27. Juni 1898 Hermann Wiechmann
27. Juni 1898 - 16. April 1921 Friedrich Georg Wilhelm Nolte
16. April 1921 - 15. Mai 1955 Max Janitzki
15. Mai 1955 - 31. Dezember 1972 Trudel und Dr. Heinz Fegler (Tochter von Max Janitzki)
31. Dezember 1972 - 31. August 2007 Ulrich te Breuil (bis August 2002) und Ursula te Breuil (bis August 2007)
1. September 2007 bis heute Filiz und Jamal Aoulad Ali
Lauterbach zufolge sollen die Assistenten künftig allein in der Apotheke arbeiten dürfen, sofern sichergestellt ist, dass sie jederzeit einen Apotheker über „Telepharmazie“, also digital, kontaktieren können. Persönlich muss der Apothekerleiter dem Entwurf nach nur noch acht Stunden pro Woche vor Ort sein – etwa, um starke Schmerzmittel nach dem Betäubungsmittelgesetz abzugeben, was den Assistenten qua Gesetz nicht erlaubt ist. Für Patienten in der Peripherie kann dies bedeuten, dass sie ihre Schmerzmittel künftig nur noch an einem ausgewählten Tag in der Woche bekommen. Oder lange Wege in Kauf nehmen müssen – sofern sie überhaupt mobil sind.
Ob die Gesetzesreform das anhaltende Apothekensterben aufhalten kann - in den vergangenen Jahren haben mehr als ein Dutzend Apotheken in Gelsenkirchen aufgegeben - daran hat das Apothekerpaar „große Zweifel“. Zumal sie ihr Geschäft ähnlich wie der stationäre Handel durch den Online-Versandriesen Amazon auch noch von anderer Seite bedroht sehen. Für Online-Apotheken hat das Bundesgesundheitsministerium extra den Card-Link eingeführt, sodass E-Rezepte über eine mobile App der Versandapotheke gelesen werden können. Den niedergelassenen Apotheken steht er nicht zur Verfügung.
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Die „Alte Apotheke“ an der Bahnhofstraße und ihre Inhaber haben ein Alleinstellungsmerkmal. Sie stellen Zytostatika (Krebsmedikamente) her, das ist nur spezialisierten Apotheken erlaubt und erfordert einen hohen technischen und organisatorischen Aufwand. Außerdem stellen sie Arzneimittel für Säuglinge und Kleinkinder her, das betrifft vor allem Herzmedikamente, die für die kleinen empfindlichen Körper entsprechend anders dosiert sein müssen.
Ob das ausreicht, damit eines Tages eines ihrer vier Kinder in ihre Fußstapfen tritt? „Offen“, sagen Filiz und Jamal Aoulad Ali. Sie befürchten, dass nur wenige Apotheken überleben werden, „wenn überhaupt nur solche in den Stadtzentren“.
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