Gelsenkirchen. Oliver S. verlässt nicht mehr das Haus, doch der Gelsenkirchener will nicht aufgeben. Er will sein Leiden öffentlich machen. Seine Geschichte:

Wie mag es sich anfühlen, wenn die Angst einen noch nicht mal vor die Tür gehen lässt? Wenn das eigene Zuhause der einzige Ort ist, an dem man sich überhaupt noch aufhalten kann? Eingesperrt durch Wände und im Kopf: Angststörungen gehören – neben Depressionen – zu den häufigsten psychischen Erkrankungen in Deutschland, etwa zwölf Millionen Menschen (rund 14 Prozent) sollen Experten zufolge betroffen sein. Die Dunkelziffer, sie liegt vermutlich viel höher. Der Gelsenkirchener Autor Oliver S. ist einer der Vielen. Mit der WAZ spricht er offen über seine Geschichte.

„Hochgradige Drucksituation“: Angst und Panik sperren Gelsenkirchener vom Leben aus

Anlass ist sein neuestes Buch, das Oliver S. kürzlich veröffentlicht hat. Doch es geht um viel mehr: Wir dürfen teilhaben, bekommen einen Einblick – bleiben aber auf Distanz. Ein persönlicher Termin ist für den 53-Jährigen nicht machbar, auch ein Telefon-Interview ausgeschlossen. „Das wäre für mich eine hochgradige Drucksituation“, erklärt S. und bittet um Verständnis. Er leide zudem aufgrund seines derzeitigen Zustands „ein wenig unter Sozialängsten. Habe ich mir nicht ausgesucht, die waren neben meinen Ängsten einfach irgendwann da“.

Wie also begann das alles? Es war ein Ereignis, vielleicht schlicht blöder Zufall, vor allem aber ein Unfall. „Es passierte während einer Foto-Tour an einem Lost Place“, erinnert sich Oliver S. 2016 war das. Er stürzt, zieht sich einen Trümmerbruch des Fersenbeins zu. Es folgen eine OP, eine Woche im Krankenhaus und drei Monate auf der Couch, liegend.

„Sie zittern am ganzen Körper, so gut wie keine Kontrolle mehr über seine Bewegungen“

Oliver S. versucht immer wieder, sich zu bewegen, doch eines Tages, von jetzt auf gleich, wie er es nennt, sieht er doppelt, spürt ein heftiges Knirschen in seiner Halswirbelsäule. „Mein ganzer Rücken fing an, höllisch zu brennen, alles war verspannt“, berichtet er. Seitdem leidet der Gelsenkirchener unter Gleichgewichtsstörungen, „und kein Arzt weiß, warum“. Das sei das Schlimmste an der Sache. Jede Untersuchung habe er über sich ergehen lassen. „Sie glauben gar nicht, mit welchem Stress man es täglich bei solchen abartigen Gleichgewichtsstörungen zu tun hat. Sie zittern am ganzen Körper, weil man aufgrund der Wackelei so gut wie keine Kontrolle mehr über seine Bewegungen hat.“ Also bleibt Oliver S. den großen Teil seiner Zeit Zuhause.

Am Anfang, da traut er sich wenigstens noch abends vor die Tür, aber nur mit Rollator. Will nicht gesehen werden, hat trotzdem noch genug Kraft, die Gleichgewichtsstörungen im Griff zu halten. Doch die Kraft lässt nach, „und ich blieb wie ein Boxer auf dem Boden liegen.“ Unzählige Male sei er im Krankenhaus gewesen, nie konnten die Ärztinnen und Ärzte etwas feststellen. Bis heute halten seine Angstzustände an, er musste sogar eine psychiatrische Klinik besuchen, Oliver S. sagt auch: „Die Ängste waren vorher nie da, sie sind das Nebenprodukt meiner Gleichgewichtsstörungen.“ Auf die Frage, ob er arbeiten kann, antwortet er: „Ganz klar nein.“

Gelsenkirchener Autor Oliver S.: „Ich bin ein ganz anderer Mensch geworden“

Wie geht es ihm derzeit? „In mir hat sich große Unsicherheit breitgemacht. Ich bin ein völlig anderer Mensch geworden. Aktuell schlage ich mich immer noch mit meinen Angstzuständen und den Gleichgewichtsstörungen herum. Gerne würde ich etwas dafür tun, dass meine Angst verschwindet, aber das kann ich erst, wenn diese verfluchten Gleichgewichtsstörungen weg sind.“ Verrückte Welt: Oliver S. erlebt auch, dass der „Zustand“ plötzlich verschwinden kann, über Monate habe er schon mal Ruhe gehabt, er fing an, wieder vor die Tür zu gehen. „Zwar mit Unsicherheit, aber ohne Angst.“ Dann kam der Tag, wo er einfach nur einkaufen gehen wollte, er war noch nicht weit gekommen, da „drehte sich von jetzt auf gleich wieder alles vor meinen Augen – ohne Vorwarnung. Das alles hat mich so sehr geprägt, sodass ich mich nichts mehr traue – zumindest nicht alleine.“

Es geht leider weiter: Oliver S. entwickelt eine Sozialphobie. Auf Menschen, die ihm fremd sind, reagiere er sehr zurückhaltend, eher abweisend. Auch die Konzentration in Gesprächssituationen habe nachgelassen. „Ich bin ein völlig anderer, als der, der ich vor meinem Unfall war“, stellt er fest.

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Ist dann überhaupt so etwas wie Alltag möglich, wenn Angst, Unsicherheit, die Zweifel so groß sind? Sein Alltag bestehe darin, sich jeden Tag aufs Neue überraschen zu lassen, sagt Oliver S. „Es kann sein, dass die Wackelei morgen für ein paar Tage wieder verschwunden ist – es kann sein, dass sich morgen die Angstzustände verstärkt haben.“ Doch ganz so leicht fällt es ihm nicht immer, Oliver S. fällt zudem in eine Depression. Der 53-Jährige ist ein Mann der offenen Worte: „Ich lebe in einer Scheiß-Spirale und versuche trotz allem, mit minimaler Kraft jeden Tag aus dieser Spirale heraus zu kommen. Denn eines steht fest: Das Leben hat Vorfahrt und da will ich wieder hin!“

Das Schreiben habe ihm geholfen, mit der Veröffentlichung seiner Bücher (er hat bereits mehrere geschrieben, nicht alle handeln von Angstpanikattacken, zuletzt im Mai erschienen ist „Togo Connection 2.0“), die teils auf wahren und fiktiven Begebenheiten beruhen, fühle er sich gut. „Immer öfter kam mir der Gedanke, ein Buch über mich schreiben zu wollen. Eine Geschichte, über die jeder lacht – eine Satire, in der ich mich zum Teil als Kunstfigur hinstelle und einem Außenstehenden die Gedanken eines Angst-Panikpatienten beschreibe.“ Oliver S. Antrieb: „Es ist mir ein sehr großes Anliegen, mit meiner Geschichte beziehungsweise mit meinem Leidensweg an die Öffentlichkeit zu gehen. Niemand soll sich dafür schämen, dass er sich in einer Psychiatrie Hilfe holt“, wird der Gelsenkirchener deutlich. Lange habe er seinen Zustand für sich behalten, „heute weiß ich, dass es falsch war.“

Eine wahre und lustige Geschichte

Oliver S. bezeichnet sein neuestes Buch „Togo Connection 2.0“ als „wahre und lustige Geschichte über Liebe, Sonne, Sand, Depressionen“ und als „Kombination aus Komik, Satire, Sozialkritik und Angstpanikattacken“. Im Mittelpunkt stehen fünf Männer, die sich in der Psychiatrie kennenlernen – ein Togoer, ein Marokkaner, ein Spanier, ein Pole und ein Deutscher.

Nach dem ersten Teil („Togo Connection – Hangover unter Palmen“) unternehmen die Fünf erneut eine Reise nach Afrika, um gemeinsam gegen ihre Phobien und Ängste vorzugehen. Und wieder einmal erleben sie eine Menge an unglaublichen Dingen.

Das Buch ist als E-Book und Print erhältlich.

Was kann er Menschen mitgeben, die ähnlich betroffen sind wie er selbst? „Niemand soll sich schämen, wenn es ihm nicht gut geht. Niemals. Man darf nicht den Fehler machen, alles mit sich auszumachen. Redet offen über euer Leid und ich schwöre euch, es gibt Leute, die euch verstehen werden“, ist sein Appell. Und dieser: „Geht zu einem Arzt, wenn ihr euch nicht gut fühlt, notfalls ins Krankenhaus. Habt keine Angst.“