Gelsenkirchen. „Bearbeitungsstau“ und „Überbürokratie“: Gelsenkirchener Verband wirft LWL und Stadt vor, Seniorenzentren in den Ruin zu treiben.
Drei Seniorenzentren mit insgesamt 279 Betreuungsplätzen und 340 Beschäftigten betreibt die Caritas in Gelsenkirchen. Dabei steht laut Leitbild der bedürftige Mensch im Mittelpunkt. Nun droht der Verband nach eigenen Angaben selbst in die Bedürftigkeit zu rutschen: Wegen eines „Verhandlungs- und Bearbeitungsstaus“ aufseiten des Landschaftsverbands Westfalen-Lippe (LWL) und verzögerter Zahlungen durch die Stadt schlägt Caritas-Direktor Michael Hegemann Alarm: „Wir stehen jetzt mit dem Rücken noch ein Stückchen näher an der Wand.“
Gestiegene Kosten für Personal und Energie sowie die immer noch hohe Inflation seien von den aktuellen Pflegesätzen nicht gedeckt – und die Aushandlung der neuen Sätze mit dem LWL und den Pflegekassen als Kostenträger stocke seit Monaten, kritisiert (nicht nur) der Gelsenkirchener Caritas-Chef.
Caritas Gelsenkirchen: Müssen monatlich bis zu 500.000 Euro vorstrecken
Obwohl der Verband den Antrag für eine neue Vergütungsvereinbarung im September 2023 eingereicht habe, stehe eine Bestätigung immer noch aus. „Wir müssen daher in Vorleistung gehen“, sagt Hegemann. Rund 100.000 Euro monatlich müsse die Caritas vorstrecken, weil die Tarifsteigerungen ab März 2024 in Höhe von 9 bis 14 Prozent nicht durch die veralteten Pflegesätze gedeckt seien.
Vom Bearbeitungsstau betroffen sei auch die Freigabe von Investitionskosten-Bescheiden, etwa für den Umbau des Schalker Liebfrauen-Stifts. Wie berichtet, wird es für 7,6 Millionen Euro modernisiert. „Wenn die Maßnahme im Sommer abgeschlossen ist, erhöht sich die Investitionspauschale pro Platz von acht auf 23 Euro. Auch hier müssen wir also vorfinanzieren.“
Gelsenkirchener Caritas-Direktor: „Das geht so nicht mehr weiter“
Weiter verschärft werde die Situation durch die „sehr langsame Bearbeitungsdauer“ bzw. „Überbürokratie“ der Stadt, so Hegemann weiter. So liefen monatliche Außenstände in einer Gesamthöhe von 300.000 bis 400.000 Euro auf, weil die Verwaltung die Anträge auf Sozialhilfe bzw. Pflegewohngeld für bedürftige Seniorinnen und Senioren nicht schnell genug genehmige – oder sich an der zeitaufwendigen Prüfung formaler Kleinigkeiten festbeiße.
„Wir müssen derartig große Liquiditätsengpässe über Rücklagen ausgleichen und prüfen, ob wir Kontokorrentkredite in Anspruch nehmen. Das geht so nicht mehr weiter“, appelliert er an die Einsicht von LWL und Stadt.
LWL: Sind vorrangig mit Umsetzung von Bundes-Reformen befasst
Der LWL bestätigt derweil auf Nachfrage, dass die Pflegesatzverhandlungen noch nicht abgeschlossen seien. Er begründet den, wie es heißt, „Bearbeitungsengpass“ bei LWL und Pflegekassen damit, dass man in erster Linie mit der Umsetzung mehrerer großer Reformvorhaben des Bundes „in einem sehr engen Zeitkorridor“ befasst sei.
Dies betreffe etwa die Verpflichtung zur tariflichen Entlohnung von Beschäftigten in nicht tarifgebundenen Einrichtungen zum 1. September 2022 sowie die Einführung eines bundeseinheitlichen Personalbemessungssystems zum 1. Juli 2023. Auch in Sachen Investitionskostenbescheide habe man noch nicht alle offenen Anträge abarbeiten können.
LWL-Vorwurf: Altenheim-Träger verlangen zu hohe Pflegesätze
Was den Abschluss der Pflegesatzvereinbarung angeht, so sieht der LWL auch die Caritas selbst in der Pflicht: „Die aktuellen Verhandlungen werden leider durch hohe Forderungen der Einrichtungsträger zusätzlich erschwert“, wirft ein Sprecher dem Verband vor. Zudem führten „häufige Rückfragen von Trägerverbänden, Trägern, Politik und Presse zu weiterer Arbeitsbelastung“, ebenso wie „notwendige Korrekturen von Anträgen“ und „ausstehende Rückmeldungen von Trägern“.
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Wann mit einem Durchwinken der Bescheide und neuen Pflegesätze zu rechnen ist? Diese Frage der Redaktion beantwortet der LWL nicht. Man arbeite „mit Hochdruck“ an der Bearbeitung der ausstehenden Investitionskostenanträge. Ansonsten habe man „die Lage im Blick“ und arbeite „derzeit an Maßnahmen, um den zeitlichen Verzug in der Antragsbearbeitung zu mindern.“ Verschiedene Maßnahmen zur Vereinfachung und Beschleunigung der Verfahren befänden sich „bereits in der Abstimmung.“
Caritas: Zahl der Altenheim-Insolvenzen hat sich erhöht
Die Stadt führt unterdessen die Komplexität vieler Fälle als Begründung für den „mehrmonatigen Bearbeitungsprozess“ an. Es müssten persönliche und wirtschaftliche Verhältnisse vor einer Kostenübernahme genau geprüft werden. „Je nach Komplexität und Sachlage sind jedoch auch kürzere Bearbeitungszeiten möglich“, betont Stadtsprecher Martin Schulmann.
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Für Caritas-Chef Hegemann drängt währenddessen die Zeit. Eine Insolvenz drohe derzeit zwar nicht, ebenso wenig eine Teilschließung der Seniorenzentren St. Anna in Bulmke-Hüllen, Liebfrauenstift in Schalke oder Bruder-Jordan-Haus in Buer. „Aber wir leben von der Hand in den Mund. Es muss etwas passieren, und zwar schnell!“, verweist er auf die bedrohliche Gesamtsituation in der Branche. Laut Caritas hat sich die Zahl der Insolvenzen in der Altenhilfe von 2022 auf 2023 in NRW verfünffacht.