Essen. Die alten Gewissheiten sind futsch: Am Sonntag schaut das politische Essen auf einen Wahlsieger, der am Ende womöglich noch zum Verlierer wird.

Vergangenen Samstag trafen sie sich nach der Sportlergala noch beim frisch gezapften Bierchen am Stehtisch: Hier der Sozial-, dort der Christdemokrat, Ingo Vogel und Florian Fuchs. Und wäre AfD-Mann Guido Reil noch im Colosseum vorbeigekommen, sie hätten gleich dort im Foyer das Essener Triell um den Bundestags-Erfolg im Essener Nord-Osten ausfechten können. Denn wie am bevorstehenden Sonntag der Dreikampf ums Direktmandat in der alten Sozi-Hochburg ausgeht, das könnte knapper – und damit für manchen sogar spannender – werden als der Blick nach Berlin.

Die alte Besenstiel-Theorie mit der Wahlgarantie für den SPD-Bewerber, sie gilt nicht mehr

Denn die aktuelle Lage ist fraglos eine Premiere für die Bundestagswahl zwischen Karnap und Kettwig, was unverkennbar an der in allen Umfragen ablesbaren Schwäche der SPD liegt – und der Stärke der AfD. Über Jahrzehnte hinweg galt für den Norden die altbekannte Besenstiel-Theorie, nach der es im Prinzip egal war, wen die Genossen im Norden aufstellten. Gewählt wurde dieser Jemand ja eh. Spannung versprach allenfalls der Süd-Wahlkreis, wo mal die SPD und mal die CDU bei den Erststimmen vorlag – und wo etwa der christdemokratische Bewerber Matthias Hauer am Ende einer langen Wahlnacht anno 2013 nur um drei Stimmen die Nase vorn hatte. Erst eine aufwendige Nachzählung ergab später: Es waren dann doch 93.

Kontrolle ist besser: Sechs Tage nach der Bundestagswahl 2013 wurden für den Süd-Wahlkreis die Stimmen  ausgezählt. Aus drei Stimmen Vorsprung für CDU-Kandidat Matthias Hauer am Ende noch 93.
Kontrolle ist besser: Sechs Tage nach der Bundestagswahl 2013 wurden für den Süd-Wahlkreis die Stimmen ausgezählt. Aus drei Stimmen Vorsprung für CDU-Kandidat Matthias Hauer am Ende noch 93. © FUNKE Foto Services | Sebastian Konopka

Vorbei. Für die jetzt anstehende Wahl scheint es, als bliebe nicht nur Hauer so ein Herzschlag-Finale erspart. Das in der Politszene beliebte Internet-Portal wahlkreisprognose.de taucht vielmehr mit Blick auf die zu erwartenden Erststimmen dieser Tage nahezu den kompletten Osten in AfD-Blau und mit wenigen Ausnahmen das alte Bundesgebiet in tiefes CDU-Schwarz. Darunter auch zwei der drei Essener Bundestagswahlkreise: den gemeinsamen Wahlkreis 117, Mülheim/Essen I, bei dem der Großraum Essen-Borbeck die Mülheimer Kandidaten mit wählt, und den Wahlkreis 119, Essen III, der den kompletten Süden und die Mitte sowie Teile des Westens der Stadt umfasst.

„Eher sicher für die CDU“ sagt das Internet-Portal „wahlkreisprognose.de“ für den Essener Norden voraus

„Sicher für CDU“ heißt es in den beiden Wahlgebieten, doch überraschender noch ist die Anmerkung für Wahlkreis 118, Essen II, der den Essener Norden und Osten umschließt. Dort notiert das Portal als „aktuelle Vorsprungstendenz: Eher sicher für CDU“. Nicht schwarz also, aber dunkles Anthrazit. Kein Wunder, dass Fuchs Morgenluft wittert. „Alles ist drin“, sagt der 39-jährige Rechtsanwalt und CDU-Ratsherr und bekennt: „Das macht was mit mir und unserem Team.“

Gerät für die SPD zum ersten Mal eine Bundestags-Kandidatur im Nord-Osten zur Zitterpartie? Ingo Vogel, Fraktionschef im Stadtrat, muss sich gegen CDU und AfD durchsetzen.
Gerät für die SPD zum ersten Mal eine Bundestags-Kandidatur im Nord-Osten zur Zitterpartie? Ingo Vogel, Fraktionschef im Stadtrat, muss sich gegen CDU und AfD durchsetzen. © FUNKE Foto Services | Uwe Ernst

Auch Kandidaten-Kollege Hauer, seit 2013 Bundestagsabgeordneter und bereits zehn Jahre auch Chef von gut 2000 CDUlern in Essen, setzt auf die Motivationskraft solcher Umfrage-Ergebnisse, die für ihn „absolute Wechselstimmung“ vermitteln, allerdings auch mit Vorsicht zu genießen sind: Siege von gestern müssten morgen nichts bedeuten, meint Hauer, um nicht allzu sorglos zu klingen: „Man fängt bei der nächsten Wahl immer bei Null an“.

Bei Null anfangen – das müssen als Direktkandidaten auch die beiden sozialdemokratischen Bundestags-Bewerber im Süden und Norden, Albert Ritter und Ingo Vogel. Ritter, 71 und ehedem Schausteller-Präsident, löst den Bochumer Jura-Professor Gereon Wolters ab, der sich bei den zurückliegenden Wahlen zweimal seinem CDU-Kontrahenten Hauer geschlagen geben musste. Und Vogel, Kriminaloberrat bei der Polizei und SPD-Chef im Stadtrat, folgt auf Dirk Heidenblut, der nach zwölf Jahren im Bundestag mit nun 63 Jahren nicht mehr kandidiert.

Die SPD bleibt lieber unterm, die AfD lieber über dem Radar der öffentlichen Selbstdarstellung

Für Vogel, das mag manchen überraschen, keine leichte Ausgangsposition. Zum einen hat er sich mit seinem pragmatischen Kurs im Stadtrat auch innerparteilich nicht nur Freunde gemacht. Er wolle „weg vom Idealismus, weg von theoriegetriebenen Debatten“, formuliert der 48-jährige bei jeder sich bietenden Gelegenheit und löst damit vor allem bei SPD-Linken hie und da Stirnrunzeln aus. Vielleicht ist dies der Grund, warum er beim SPD-Parteitag wie in der Wahlversammlung auch ohne Gegenkandidaten gerade zwei Drittel der Stimmen einheimsen konnte. Interview-Angebote nimmt Vogel, obwohl wiederholt vorgetragen, nicht wahr, es ist dies, so scheint‘s, seine Lehre aus einem parteiinternen Streit zur Kommunalwahl mit dem damaligen OB-Kandidaten der Genossen Oliver Kern – und womöglich der Versuch, unterhalb des Radars ans Ziel zu kommen.

Sie wittern Morgenluft: Kandidat Florian Fuchs (links) und der Bundestagsabgeordnete Matthias Hauer von der CDU spüren Rückenwind durch Umfragen und Internet-Portale: „Alles ist drin.“
Sie wittern Morgenluft: Kandidat Florian Fuchs (links) und der Bundestagsabgeordnete Matthias Hauer von der CDU spüren Rückenwind durch Umfragen und Internet-Portale: „Alles ist drin.“ © FUNKE Foto Services | Andreas Buck

Das beschert jenem Mann Freiräume, der gern auf dem Radar als größtes anzunehmendes Wahlsubjekt zumindest im Norden erscheint: Guido Reil von der AfD. Der 55-jährige Ex-Bergmann, seit kurzem Rentner, stellt sich etwa gezielt vor gut besuchten Heimspielen von Rot-Weiss Essen vors Stadion an der Hafenstraße, feiert die Straßenpräsenz der AfD, die das Aussätzigen-Image abgelegt habe, und genießt die zahlreichen Medienanfragen von den Tagesthemen bis zur New York Times. Die präsentieren ihn in Ermangelung anderer Alternativen und weil‘s so schön passt als Paradebeispiel des SPD-Niedergangs. Dabei geht Wahlkämpfer Reil kein böses Wort über seinen Hauptgegner Ingo Vogel über die Lippen, dessen Sitznachbar er weiland zu Sozi-Zeiten war: „Der Ingo ist ein feiner Kerl.“

Gibt es am Ende womöglich einen Wahlkreis-Sieger, dem das Tor zum Bundestag verschlossen bleibt?

Und wer am Ende im Nord-Ost-Wahlkreis die Nase vorn hat – wer will das seriös einschätzen? Ja, zur Europawahl hatte die AfD im Norden vielerorts die Nase vorn, aber ob sie diesen Zuspruch auf die Bundestagswahl übertragen kann, steht noch dahin. Und CDU-Mann Fuchs schwant, dass nur der Zweikampf zwischen SPD und AfD ihm eine Chance bescheren dürfte, als lachender Dritter durchs Ziel zu gehen. Wenn es aber ganz verrückt läuft, dann kennt das Rennen um das Direktmandat im Essener Nord-Osten am Ende zwar einen Sieger, aber einen, dem das Tor zum Reichstag dennoch verschlossen bleibt.

Denn mit der Reform des Wahlrechts im Bund, die unter anderem eine ausdrückliche Beschränkung auf 630 Bundestags-Mandate vorsieht, ist nicht mehr zwingend gewährleistet, dass ein Wahlkreis-Sieger automatisch einen Sitz im Bundestag erlangt. Vielmehr gehen am Ende womöglich eine ganze Reihe von Gewählten leer aus, wenn eine Partei mehr Direktmandate erringt als ihr anhand des Zweitstimmen-Ergebnisses zustehen. In die Röhre schauen dann die „Sieger“ mit dem knappsten Vorsprung vor der Konkurrenz.

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Zumindest bei den großen Parteien mit Chancen auf viele Direktmandate entwertet dies die Bedeutung der Reserveliste. Bei den anderen ist sie nach wie vor Garant für einen Einzug ins Parlament. Etwa für Stefan Keuter von der AfD, der – anders als der nicht abgesicherte Guido Reil – angesichts seines 12. Platzes auf der NRW-Liste der „Alternative für Deutschland“ wieder fest mit einem Einzug in den Bundestag rechnen kann.

Nach zwei Jahrzehnten mit Kai Gehring als Abgeordneter im Bundestag bricht für Essens Grüne eine neue Zeit an: Stephan Neumann (Foto) hat auf NRW-Listenplatz 32 keine realistische Chance auf einen Einzug..
Nach zwei Jahrzehnten mit Kai Gehring als Abgeordneter im Bundestag bricht für Essens Grüne eine neue Zeit an: Stephan Neumann (Foto) hat auf NRW-Listenplatz 32 keine realistische Chance auf einen Einzug.. © FUNKE Foto Services | Kerstin Kokoska

Keine realistischen Aussichten sind hingegen Elke Zeeb und Stephan Neumann von den Essener Grünen beschieden: Platz 43 für sie, Platz 32 für ihn, das ist zu weit hinten, um auch nur in die Nähe eines Mandatserfolgs zu kommen, weshalb der Abschied ihres Abgeordneten Kai Gehring nach 20 Jahren im Deutschen Bundestag auch eine Zäsur für die hiesigen Grünen bedeutet.

Keine Grünen, keine Liberalen und keine Linken aus Essen mit Chance auf ein Mandat

Chancenlos ebenso die Essener Bewerber der FDP die weit hinten in der Liste rangieren, und die der Linken, die dort erst gar nicht auftauchen. Auch das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) führt in seiner Liste niemanden aus Essen. Das lässt sich für die Wahlkämpfer auch mit Bier nicht schön trinken.

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