Essen-Leithe. Verzweifelt wenden sich die Bewohner der Siedlung Litterode an Essens Stadtoberhaupt: Offenen Brief unterschreiben Experten aus ganz Deutschland.
Roswitha Weng weint. Die 63-Jährige hat so lange gehofft, ihr Zuhause werde gerettet. Doch der Abriss in der Siedlung Litterode schreitet voran. Der Allbau möchte auf dem Areal Neubauten errichten. Die verbliebenen 32 Bewohner fürchten nun Räumungsklagen. Ihre Gemeinschaft, sie ist in Teilen längst zerrissen. Doch sie geben nicht auf und wenden sich jetzt mit einem offenen Brief an Oberbürgermeister Thomas Kufen. Er soll den Abriss stoppen, fordern sie - dieser Forderung haben sich in wenigen Tagen Hunderte angeschlossen. Darunter rund 30 Professoren und Professorinnen aus ganz Deutschland.
Die Unterzeichner fordern, dass alternative Maßnahmen ernsthaft geprüft werden und die Bewohner und Bewohnerinnen einbezogen werden. Die Immobilien Management Essen GmbH mit ihrer Mehrheitsbeteiligung an der Allbau-Gruppe solle ihrer Verantwortung für die Stadt und deren Menschen gerecht werden und das Vorgehen in der Siedlung Litterode korrigieren, heißt es in dem Brief.
In der Siedlung Litterode in Essen-Leithe sind einige Häuser bereits abgerissen
Der Oberbürgermeister selbst solle „persönliche wie rechtliche Möglichkeiten ausschöpfen, um die unnötige Zerstörung baulicher und sozialer Strukturen zu beenden und sich für eine Quartiersentwicklung im Sinne der Essener Nachhaltigkeitsstrategie stark machen“, formulieren sie und setzen auf das, was er selbst als Stadtoberhaut betont habe: „Unser Handeln in Essen hat Auswirkungen auf das Heute und die Zukunft. Wir alle sollten unsere Verantwortung dabei ernst nehmen“, zitieren sie Thomas Kufen mit Auszügen aus der Essener Nachhaltigkeitsstrategie (2021).
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In Leithe klafft indes ein großes Loch im Boden, wo einst die Kita der Kinder aus der Litterode stand. Die schon lange leer stehenden Häuser sind längst dem Erdboden gleich gemacht worden. Alle Mieter haben bereits im Vorjahr Kündigungen erhalten, einige sind inzwischen ausgezogen. Das städtische Wohnungsunternehmen Allbau hat das Areal von der Stadt selbst gekauft und will sozial geförderten Wohnraum schaffen. Pläne, die der Allbau als wirtschaftlicher und ökologisch nachhaltiger beschreibt, als die Sanierung der historischen Gebäude.
Die Bewohner geben aber nicht auf, kämpfen unermüdlich um ihre Litterode, fühlen sich nicht ernst genommen, übergangen und auch hintergangen, von der Politik verraten. Die habe seinerzeit für den Abriss gestimmt, obwohl so gut wie niemand die Siedlung und ihre Historie gekannt habe, heißt es immer wieder. Die war einst Obdachlosensiedlung, Väter und Großväter der heutigen Bewohner haben sie schon einmal in den 1980er Jahren gerettet, haben angepackt und die Häuser saniert, als der Abriss drohte. Sie erhielten Mietverträge für den städtischen Wohnraum, die Litterode galt als Vorzeigeprojekt.

Nicht nur für Professor Tim Rieniets ist sie das bis heute, der Essener hat seinen Lehrstuhl an der Universität Hannover und unterstützt die Menschen in Leithe: Sie lebten bescheiden, der Wohnraum pro Person sei gering, die gegenseitige Unterstützung über Generationen hinweg riesig. Der Umgang mit den Bewohnern erschüttert ihn und lässt auch ihn als Stadt- und Raumplaner nicht ruhen. So möchte Rieniets die Litterode nicht nur im Sommer zu einem Projekt für seine Studenten machen, die weitere Alternativen entwickeln sollen.
Viele Professoren aus ganz Deutschland haben den offenen Brief der Essener unterschrieben
Jetzt möchte er vor allem helfen, dass die verbliebenen Häuser verschont werden. Denn mit der Siedlung würde nicht nur ein Stück Stadtgeschichte verloren gehen, sondern auch eine intakte Gemeinschaft, die auf vorbildliche Weise nachbarschaftliches und generationenübergreifendes Zusammenleben praktiziert, hat er in dem Brief formuliert, den nun so viele seiner Kollegen und Kolleginnen bereits unterzeichnet haben. Darunter sind Prof. Dr. Christoph Grafe, derzeit Dekan an der Fakultät Architektur und Bauingenieurwesen der Bergischen Universität Wuppertal sowie Dr. Alexander Stumm, Universität Kassel, Fachbereich Architektur - Stadtplanung – Landschaftsplanung sowie Professoren und Professorinnen der Technischen Hochschule Köln und Dortmund, aus Hamburg, Berlin, München und Bremen.

Sie alle seien der Meinung, dass die Zerstörung der Litterode fachlich und menschlich nicht akzeptabel sei, sagt Hevres Becker, die seit Jahren mit ihrem Mann, den beiden Kindern und ihren Eltern in der Litterode lebt. „Der Oberbürgermeister ist jetzt unsere letzte Hoffnung“, sagt die Bewohnerin, die bereits selbst im Rathaus bei Thomas Kufen gewesen ist. Es gab zudem große Expertenrunden mit allen Beteiligten. Bislang ohne Ergebnis. Nun wenden sich die Menschen ein weiteres Mal an das Stadtoberhaupt und bitten um Hilfe: „Sonst müssen wir mit ansehen, wie unsere Heimat zertrümmert wird.“
Essener Bürgerinitiative hat OB und Allbau einen alternativen Plan für die Siedlung übergeben
Im September 2024 hat die Bürgerinitiative „Rettet die Litterode!“ dem OB sowie den Zuständigen des Allbaus den alternativen Plan übergeben, um die angeführten Argumente zu entkräften. Sie haben mit den Fachleuten, die sich der Initiative angeschlossen haben, eine Bauzustandsbeschreibung der historischen Häuser vorgenommen und die Kosten für die Sanierung dieser Gebäude ermittelt.

„Durch die geschickte Ausnutzung der Fläche könnte die gleiche Anzahl an Wohneinheiten bereitgestellt werden, wie von der Allbau GmbH geplant. Gleichzeitig könnte der größte Teil der historischen Siedlung erhalten bleiben“, lautet ein Ergebnis, das sie in ihrem Brief erneut anführen. Denn die historischen Gebäude ließen sich problemlos an heutige Wohn- und Energiestandards anpassen. Die Sanierungskosten würden die Kosten für vergleichbare Neubauten nicht übersteigen, haben sie errechnet.
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„Der Erhalt und die Modernisierung der historischen Gebäude hat wesentlich geringere ökologische Auswirkungen, sowohl in Bezug auf die Treibhausgasemissionen als auch in Bezug auf Flächenversiegelung, Rohstoffverbrauch und das Aufkommen von Bauabfällen“, steht in dem Schreiben. Und ein weiteres Argument für die Rettung: Die Bewohner, die seit Jahrzehnten in einer sozial stabilen Nachbarschaft zusammenleben, könnten ihre Heimat behalten und mit zukünftigen Mitbewohnern teilen.
Was die Menschen derzeit jedoch trotz dieser Argumente, Gespräche und Kooperationsangebote erlebten, sei die fortschreitende Vernichtung ihres Wohnraums. Denn der Allbau habe bereits im Oktober eines der historischen Gebäude abgerissen, das hätte saniert werden können. Die Litterode Hausnummer 23/25 ist inzwischen verschwunden. Aktuell würden vier weitere sanierungsfähige Häuser für den Abriss vorbereitet (Hausnummern 18/20, 22/24, 30/32, 34/36).
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Die Unterzeichner des Briefes möchten den Oberbürgermeister darauf hinweisen, „dass dieses rücksichtslose Vorgehen nicht nur das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in eine sozial verantwortliche und fachlich kompetente Stadt- und Quartiersentwicklung beschädigt, sondern auch auf eklatante Weise gegen die Nachhaltigkeitsstrategie der Stadt Essen verstößt“. Darunter falle etwa der Themenbereich „Wohnen und nachhaltige Quartiere“. Zudem stehe dieses Vorgehen nicht im Einklang mit der Wohnbauförderung des Landes NRW, die von der Allbau GmbH in Anspruch genommen werde, denn diese setzt die „Sicherung sozial stabiler Bewohnerstrukturen“ voraus.
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Allbau und Stadtverwaltung hätten sich durchaus mit der Alternativplanung befasst und übereinstimmend der Lokalpolitik vorgeschlagen, diese nicht weiter zu verfolgen. Diesem Vorschlag seien die politischen Vertreter mehrheitlich gefolgt, erklärt Allbau-Sprecher Dieter Remy. Daher soll der Baubeginn auf der Teilfläche, auf der Kita und die seit Jahren leerstehenden Häuser abgerissen wurden, bereits im Sommer beginnen. Auf den weiteren Flächen stünde der Neubau nach Leerzug und Abriss an. In den kommenden Tagen und Wochen werden vier weitere Doppelhäuser abgerissen, bestätigt er.
Die Mietverträge sind inzwischen allesamt ausgelaufen. „Es bestehen aber noch elf Nutzungsverhältnisse, bei denen die Bewohner zum Mietvertragsende nicht ausgezogen sind“, fasst Dieter Remy zusammen. Räumungsklagen seien noch nicht eingereicht worden.
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Roswitha Weng steht in ihrer Siedlung und wischt sich die Tränen aus den Augen. Sie hat Angst. Blickt sorgenvoll in die Zukunft. Und dann zurück: 1974 ist sie in der Leither Siedlung angekommen. Mit ihren Eltern und ihren acht Geschwistern. Hier sind sie behütet aufgewachsen. Später gehörte sie zur Mütterrunde in der Kita, hat manchen unvergessenen Ausflug mit der gesamten Siedlung gemacht. Hier sind ihre Eltern gestorben, lebt ihr Sohn heute noch. Ihre Nachbarn und Freunde auch. Hier wird sie aufgefangen. Seitdem sie krank ist, ist auf eines Verlass: „Ich muss nur um Hilfe rufen, dann kommt jemand.“
Der Allbau habe ihr geschrieben, es wäre doch nicht mehr die gleiche Gemeinschaft, wenn nur ein Teil bleiben könnte, wie es der Alternativ-Plan vorsieht. Doch Roswitha Weng schüttelt energisch den Kopf, denn für sie bieten die Siedlung, die Menschen, ihre vier Wände und ihr Garten ihr vor allem eines: Sicherheit. Woanders leben, das könne sie nicht. „Dann würde ich Panik bekommen“, beschreibt sie und sagt leise das, was sie alle in der Litterode weiterhin hoffen: „Vielleicht lassen sie uns einfach hier wohnen.“
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