Essen-Leithe.. Die ehemalige Kita ist bereits verschwunden: Bewohner der Siedlung hoffen dennoch weiter – auf eine Alternative und auf den Oberbürgermeister.
Sie hat es nicht geschafft: Der Plan von Sabrina Jostes ist nicht aufgegangen. Die 44-jährige Mutter wollte aus ihrem Haus in der Litterode ausziehen, bevor die Bagger mit der Arbeit beginnen. Sie wollte das Ende nicht mit ansehen. Jetzt sind schon die ersten Gebäude dem Erdboden gleichgemacht worden, in der Siedlung rollen Bagger und Tränen. Während der Abriss der schon lange leerstehenden Häuser läuft, macht indes ein Besuch bei Oberbürgermeister Thomas Kufen den verbliebenen Mietern wieder Mut.
Sie sind vors Rathaus gekommen, manche tragen ihre selbst beschrifteten Shirts („Rettet die Litterode“). Dirk Bolduan hat in der Nacht zuvor kaum geschlafen, andere haben viel geweint, seitdem der Abriss begonnen hat. Aufgeregt sind sie alle von dem Treffen, von dem sie sich so viel erhoffen: ihr aller Zuhause zu retten.
Statt der derzeitigen Häuser in der Litterode sollen 73 neue Einheiten entstehen
Das Stadtoberhaupt bringt nun Mieter und Vermieter nochmals an einen Tisch. Denn nachdem der Allbau die Siedlung von der Stadt übernommen hat, haben die 19 verbliebenen Mietparteien rasch erfahren, dass ihre Häuser 73 neuen Einheiten weichen sollen. Sie alle haben die Kündigung erhalten. Seitdem stehen der Bedarf an modernem Wohnraum und die Frage nach der Wirtschaftlichkeit bei einer Sanierung einer großen Angst gegenüber – und einem Zusammenhalt, so wie er bereits seit vielen Jahrzehnten existiert.
Es sind Dirk Bolduan, Hevres Becker und Joel Bolduan, die mit ihrem Anwalt und Mitgliedern von der Gruppe der Klima-Architekten zum Gespräch mit Thomas Kufen eingeladen worden sind. An ihrer Seite ist Tim Rieniets, der alternative Pläne ausgearbeitet und mitgebracht hat. Der Professor für Stadt- und Raumentwicklung von der Universität Hannover hat das Vorhaben des Allbaus zuvor bereits kritisiert, hat auf den CO₂-Ausstoß beim Abriss und Neubau hingewiesen und darauf, dass die Menschen auf kleinem Wohnraum in großer Gemeinschaft vorbildlich leben. Denn der Fachmann ist der Ansicht, dass es eben auch anders geht. Nicht alle Häuser müssten demnach abgerissen werden.
Litterode: Einladung zur Diskission
Unter dem Titel „Nachhaltige Stadtentwicklung, sozialer Zusammenhalt, Litterode“ findet am Mittwoch, 6. November, eine Diskussion statt. Sie findet von 19 bis 21 Uhr im Forum Kunst & Architektur, Kopstadtplatz 12, statt. Dazu lädt Die Linke, Kreisverband & Ratsfraktion Essen, ein.
Es diskutieren: Tim Rieniets, Professor für Stadt- und Raumentwicklung von der Universität Hannover; Peter Bdrenk, Vorstand des Bundes Deutscher Architekten Essen; Hevres Becker, Bewohnerin der Litterode; Martin Harter, Planungsdezernent Stadt Essen und Dirk Miklikowski, Geschäftsführer der Allbau GmbH. Die Moderation übernimmt Wolfgang Freye, Linken-Kreissprecher und Mitglied im Ausschuss für Stadtentwicklung, -planung und Bauen).
„Die große Herausforderung an der Litterode besteht darin, dass hier verschiedene Interessen aufeinandertreffen“, sagt Tim Rieniets. Zum einen habe der Allbau den Auftrag, Wohnraum zu schaffen. Zum anderen nehme das Unternehmen für sich in Anspruch, Gesellschaft, Umwelt und Klima zu berücksichtigen und dabei sogar „über die Erfüllung gesetzlicher Anforderungen“ hinauszugehen.
„In der Litterode scheint es dem Allbau schwer zu fallen, diesem Anspruch gerecht zu werden“, so der Eindruck des Professors. Auch dem selbstgesteckten Ziel, eine „ganzheitliche Stadt- und Stadtteilentwicklung“ zu betreiben, werde das Unternehmen in der Litterode nicht gerecht, denn der Plan der Allbau gehe weder auf die Geschichte, noch auf die städtebaulichen Eigenheiten des Ortes ein. „Und dann sind da noch die Bewohner und Bewohnerinnen, die um den Verbleib in ihrer Siedlung kämpfen.“
Darum hätten sie getestet, ob man die sozialen, ökologischen und städtebaulichen Ziele nicht besser miteinander verbinden könnte: „Wir haben einen Plan gezeichnet, der nur im nördlichen Bereich des Gebietes den Abriss alter Bausubstanz vorschlägt und den Neubau eines kompakten Geschosswohnungsbaus mit geförderten Wohnungen“, erklärt Rieniets. Für die verbleibenden zwölf Zechenhäuser schlagen sie eine Sanierung und bauliche Erweiterung vor. Das Ergebnis: „Auf diese Weise würde der Charakter der Häuser erhalten bleiben, die Wohnfläche aber deutlich größer und moderner werden.“ Die Wohnfläche würde demnach von rund 70 auf über 100 Quadratmeter erweitert werden.
Nach diesen Berechnungen könnte man sogar mehr Wohneinheiten anbieten, als im Plan des Allbaus vorgesehen seien. Außerdem wäre diese Alternative ökologisch nachhaltiger, weil sie weniger Fläche versiegelt, weniger Bauschutt verursacht, weniger Ressourcen verbraucht und schließlich auch weniger Treibhausgase durch den Neubau freisetzen würde. „Zudem hätten die Menschen in der Litterrode eine Perspektive“, weist der Experte auf die langjährigen Mieter hin.
36 Doppelhaushälften gebe es in der Litterode noch, die laut Allbau teilweise noch bewohnt seien. Mit sieben Mietparteien hätten bereits einvernehmliche Lösungen getroffen werden können. Einige Bewohner sind bereits ausgezogen. Bei 14 Mietverträgen gebe es noch keine einvernehmliche Lösung. Gleichwohl gibt es den Hinweis, dass auch die neuen Gebäude für eine Dauer von 100 Jahren entstehen würden, das entgegnet der Allbau etwa auf die Kritik an der enormen und nicht berücksichtigten Emission durch Abriss und Neubau.
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Hinter all diesen Zahlen stehen aber vor allem Menschen, die verunsichert sind, die ihre gewohnte Umgebung wie ihr soziales Umfeld verlieren sollen. Umso dankbarer war etwa Dirk Bolduan, nun dem Oberbürgermeister erstmals ausführlich davon berichten zu dürfen, wie sein Vater damals mit den anderen hier geschuftet hat, um die Siedlung schon einmal zu retten. Es gab eine Vereinbarung mit der Stadt, die Menschen packten an, aus der Obdachlosensiedlung wurde Mietraum. Ein ehemaliges Vorzeigeprojekt, das jetzt erneut bedroht ist.
Litterode-Anwohner aus Essen im Video
„Ich bleibe nach dem Treffen mit gemischten Gefühlen zurück“, sagt Dirk Bolduan und ist doch auch erleichtert. Zum ersten Mal seit langem hätten sie wieder Hoffnung geschöpft, beschreibt Hevres Becker. Denn das Gespräch mit dem Oberbürgermeister habe sie als angenehm, ja sogar sehr menschlich empfunden, nachdem ein erstes Treffen sie alle maßlos enttäuscht zurückgelassen hatte. Immer wieder hätten sie sich anhören müssen, was für schöne Neubauten der Allbau plane. Dass sie dafür ihre Häuser verlassen müssen, das habe damals nicht im Raum gestanden.
„Bei diesem Treffen haben wir unsere Argumente nun mit Vertretern der Allbau GmbH ausgetauscht. Man hat uns versichert, dass man unsere Vorschläge ernst nehmen würde. Nun sind wir sehr gespannt, ob Taten folgen werden“, sagt Tim Rieniets danach. Der Allbau selbst habe ihnen zugesagt, sich mit den Plänen auseinanderzusetzen.
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Allbau-Prokurist Samuel Šerifi bestätigt das, weist jedoch bereits darauf hin, dass fraglich bleibe, ob die Alternative überhaupt förderungsfähig sei. Denn die Allbau-Pläne sehen eine Landesförderung und in der Konsequenz sozial geförderten Wohnraum vor. Selbst, wenn man theoretisch über frei finanzierten Wohnraum nachdenken würde, schon jetzt stünde fest: Nach so umfangreichen Maßnahmen und Erweiterungen stünden dann erhebliche Mietanpassungen an. Und: Die Mieter müssten für die Dauer der Arbeiten ohnehin ausziehen.
Beim Anblick der Bagger und der Abrissarbeiten weinen viele Bewohner der Litterode
Sabrina Jostes plant ihren Auszug nun weiterhin für den 1. November. Erspart bleibt ihr jetzt nicht, dass sie mit ansehen wird, wie nach der Kita („unser Herzstück“) in der Siedlung jetzt auch der Abriss des Hauses ansteht, in dem die Großeltern ihrer Kinder lebten. Die Fassade ist bereits abgedeckt. „Schon bei diesem Anblick habe ich nur noch geweint.“ Stundenlang. So geht es vielen in der Litterode, während sie sich immer wieder auch die Wohnungsangebote anschauen, die der Allbau ihnen samt Hilfe beim Umzug anbietet.
Sie warteten jedoch noch vergebens auf die „guten Lösungen“, die der Allbau ihnen in Aussicht gestellt habe. „Es ist nicht einmal gelungen, uns eine Vier-Raum-Wohnung zu beschaffen. Wie wollen sie uns dann eine Möglichkeit bieten, in der ich meinen Vater weiterhin pflegen kann“, fragt etwa Hevres Becker, die mit ihrem Mann und ihren Kindern gleich neben den Eltern wohnt, die einst aus dem Irak geflüchtet sind.
„Wir bräuchten zwei Wohnungen gleichzeitig“, sagt sie, die auch selbst nach Wohnraum sucht – sogar außerhalb von Essen. „Es ist einfach nur unmöglich etwas zu finden, das das Mehrgenerationenwohnen möglich macht“, blickt sie besorgt in die Zukunft. „Diese Art des Wohnens ist nämlich bei uns in der Litterode seit Generationen möglich.“ Unvorstellbar, dass die Bagger dem nun ein Ende machen sollen.
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