Essen. Claudia Haarmann aus Essen berät Familien, in denen die erwachsenen Kinder sich abgewandt haben. Sie sagt: Eltern sollten das akzeptieren.
Blut ist dicker als Wasser. Oder? Claudia Haarmann, Heilpraktikerin für Psychotherapie aus Kettwig, erlebt oft Fälle, in denen das nicht so ist. Mehr noch: Inzwischen berät sie ausschließlich zum Thema Kontaktabbruch in Familien. Sie spricht mit verzweifelten Eltern, die nicht verstehen können, warum sich ihre inzwischen erwachsenen Kindern von ihnen abgewendet haben. Und mit Kindern, die nicht anders können, als sich gänzlich zu lösen. Jetzt hat die 72-Jährige ein neues Buch geschrieben: „Der Schmerz verlassener Eltern. Kontaktabbruch als emotionales Erbe verstehen und Wege damit umzugehen.“
Haarmann ist gebürtige Hagenerin und gelernte Buchhändlerin. 1973 zog sie der Liebe wegen nach Essen, später arbeitete sie viele Jahre als freie Journalistin. Mit Anfang 40 begann sie, sich mit Psychologie und Psychotherapie zu beschäftigen, und sattelte beruflich um. „Ich habe mich zum Beispiel gefragt: Was es Menschen schwer macht, offen miteinander zu reden?“, nennt sie einen Beweggrund. Sie machte mehrere Ausbildungen. Eine Zeit lang hatte sie eine Praxis in Stadtwald, heute bietet sie Online-Beratungen an.
Für ihr neues Buch recherchierte die Essener Autorin Zahlen zum Thema Kontaktabbruch
2008 brachte Haarmann ein Buch über die Beziehungen zwischen Müttern und Töchtern heraus. „Daraufhin habe ich so viele Mails bekommen“, erinnert sich die Autorin. Der Tenor etwa: „Ich habe großen Kummer, denn ich habe keinen Kontakt mehr zu meiner Tochter.“ Oder: „Ich habe riesige Probleme mit meiner Mutter.“ Das habe sie damals wirklich erstaunt, sagt Haarmann. Doch es stellte sich heraus, dass Phänomen bei weitem kein seltenes ist.
Für ihr aktuelles Buch hat Haarmann Zahlen recherchiert. Eine deutsche Studie aus dem Jahr 2021 ergab beispielsweise, dass sich ein Fünftel aller Erwachsenen vom Vater und neun Prozent von der Mutter entfremdet haben. Auch der britische Verein „Stand Alone“, der Familien in dieser Situation unterstützt, hat landesweite Untersuchungen zu dem Thema in Auftrag gegeben. Dabei gaben 19 Prozent der Befragten an, dass innerhalb ihrer Familie ein Mitglied den Kontakt abgebrochen habe.
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Zu viel Nähe oder zu viel Distanz: Warum Kinder den Kontakt abbrechen
Haarmann hat in ihrer Beratung inzwischen viele Geschichten von Kontaktabbrüchen gehört. „Das sind sehr, sehr traurige Geschichten“, sagt sie. Und: „Es sind Geschichten wie deine und meine.“ In ihrem Buch thematisiert sie nicht die Schicksale von Familien, in denen Gewalt oder sexueller Missbrauch stattgefunden haben. Sie trifft keine Eltern, die grausam oder gefühllos sind. Und sie hält nichts davon, Eltern als „toxisch“ zu bezeichnen. „Ich habe sogar schon oft gedacht: Die könnten meine Freunde sein“, erzählt sie. Die Eltern hätten vielmehr bestimmte Muster verinnerlicht, die einen respektvollen Umgang mit ihren Kindern verhinderten.
Aus Haarmanns Erfahrung gibt es zwei typische Szenarien, die dafür sorgen, dass Kinder den Kontakt zu ihren Eltern abbrechen: zu viel Nähe und zu viel Distanz. „Die einen sagen: ‚Ich kann mich nicht daran erinnern, dass ich als Kind mal auf den Schoß genommen worden bin‘ oder ‚Bei uns ging es immer nur um Leistung‘“, erklärt die Heilpraktikerin für Psychotherapie. Andere beschrieben die Beziehung zu den Eltern als zu intensiv, zu nah. „Meine Mutter ruft dreimal am Tag an, sie möchte mir immer helfen, ich brauche Luft zum Atmen“, heiße es da beispielsweise.
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Essenerin: „Eltern lieben ihre Kinder“ – und umgekehert
Wenn die erwachsenen Kinder schließlich die Reißleine ziehen, so erlebt es Haarmann, können die Eltern das oft überhaupt nicht verstehen. „Eltern lieben ihre Kinder. Sie tun ihr Bestes, richten ihr Leben nach den Kindern aus. Und dann sagt das Kind auf einmal mit 35: Wie unser Verhältnis ist, möchte ich es nicht“, so Haarmann. „Für Eltern ist das eine Katastrophe.“ Die Kinder dagegen könnten wirklich nicht mehr. „Auch sie lieben ihre Eltern. Aber sie wollen diesen Umgang nicht mehr, sie wollen eine gleichberechtigte Beziehung.“
Ein Punkt, der zum gegenseitigen Unverständnis führe: Verglichen mit der Elterngeneration hätten junge Erwachsene andere Ansprüche an Beziehungen. Sie setzten sich stärker mit Psychologie auseinander. In den sozialen Medien, aber auch in Gesprächen mit Gleichaltrigen. „Welche Bedürfnisse habe ich? Was möchte ich, was möchte ich auf keinen Fall?“ Über solche Fragen unterhielten sich junge Menschen heute ganz selbstverständlich.
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Wenn Kinder keinen Kontakt wollen: Akzeptieren statt hinterherlaufen
Wenn Eltern merken, dass Kinder den Kontakt immer stärker reduzieren, rät Haarmann: „Redet mal anders als normalerweise.“ „Gibt es etwas, das du brauchst, das du vermisst, das du uns sagen möchtest?“, könnten Eltern beispielsweise fragen. Denn nicht selten hätten betroffene Kinder den Eindruck, dass Eltern nur von sich erzählten. „Meine Eltern hören mir nicht zu“, berichteten ihr viele erwachsene Kinder.
Brächen die erwachsenen Kinder dagegen bewusst den Kontakt mit den Eltern ab, sei es zunächst sehr wichtig, diese Entscheidung zu akzeptieren, betont Haarmann: „Wenn sie ihnen hinterherlaufen, wird es nur noch schlimmer.“ Hier gelte es, mit dem Kopf, statt mit dem Herzen zu entscheiden. Das Herz schreie danach, die Kinder zu kontaktieren, Eltern sollten sich aber bewusst machen: „Mein Kind hat eine Grenze gezogen und das muss ich akzeptieren.“
Essener Autorin berichtet: Die meisten Kinder kommen zurück
Eltern könnten, so Haarmanns Empfehlung, den Kontaktabbruch als Gelegenheit sehen, um sich mit ihrer Beziehung zu ihren eigenen Eltern auseinanderzusetzen. Denn die sei in fast allen Fällen, die sie erlebe, ebenfalls schlecht. Eltern sollten sich fragen: „Was hat das für Auswirkungen auf die Beziehung zu meinem Kind?“, „Welche negativen Muster gibt es in unserer Familie“, und auch: „Habe ich richtig gelernt, mit anderen zu sprechen?“ Der Perspektivwechsel sei für viele ein „Gamechanger“, also etwas, das bisher geltende Regeln und Mechanismen grundlegend verändert.
Die gute Nachricht: Die Mehrheit der Kinder komme zurück, sagt Haarmann. Sie brauchten Zeit für sich, wünschten sich dann aber doch wieder Kontakt zu ihren Eltern. „Gerade gestern habe ich noch eine Mail bekommen, in der es hieß: ‚Ich habe mich nach drei Jahren erstmals wieder mit meiner Tochter getroffen und diesmal war es ganz anders‘“, berichtet die Autorin. Solche Nachrichten erhalte sie „ganz oft“. Das sei der schöne Teil ihrer Arbeit.
„Der Schmerz verlassener Eltern“ ist im Kösel-Verlag erschienen. Die gebundene Ausgabe kostet 20 Euro, das E-Book 12,99 Euro.
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