Essen. Von wegen Folkwang-Stadt: Wie die Stadt Essen dieser Tage ein Kunstwerk schleifte – und versäumte, die Künstlerin um Erlaubnis zu fragen.
Blankgewienerte Fettecken, per Hochdruckreiniger entfernte Gemälde und teure Plastiken im Hausmüll – vom wahren Wert der Kunst erfahren manche Zeitgenossen ja leider erst im Nachhinein aus der Zeitung: dann, wenn sie „den Unrat“ aus meist hehren Motiven, aber bar jeder Kenntnis längst kopfschüttelnd entsorgt haben. Der jüngste Vorfall aus der Abteilung „Ist das Kunst, oder kann das weg?“ trug sich am vergangenen Mittwoch am Rande der Essener Innenstadt zu, obwohl: So ganz trifft die Formel hier nicht zu. Der Kunstfrevel war kein Zufall.
Zum wiederholten Mal ein Antrag der FDP, das Areal „in einen ansehnlichen Zustand versetzen zu lassen“
Denn wiewohl die ebenso verkehrsumtoste wie verwahrloste grüne Insel zwischen Schützenbahn und Bernestraße vielen Bürgern seit Jahr und Tag ein Dorn im Auge ist: Als die örtliche FDP sich im April vergangenen Jahres (übrigens nicht zum ersten Mal) dafür einsetzte, das „in grauenhaftem Zustand“ befindliche Grundstück „in einen ansehnlichen Zustand versetzen zu lassen“, da war allen klar: So ohne weiteres geht das nicht.
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Man rede hier schließlich über Kunst: „Wilder Garten“ hieß das Werk, 1985 geschaffen von der Performance-Künstlerin Monika Günther im Rahmen des Folkwang-Festivals der Künste. Mit verschiedenen Pflanzen auf einem Bett aus Bauschutt wollte die Künstlerin der voranschreitenden Versiegelung der Städte mit einer naturnahen Gestaltung städtischer Grünflächen begegnen, ein Hingucker war das allemal. Und ein Aufreger obendrein.
Doch mangels Pflege entstand mit der Zeit ein städteplanerischer Unort, der weniger die Versiegelung als vielmehr die wachsende Verwahrlosung so mancher Essener Ecken unfreiwillig dokumentierte. Obdachlose und Drogenkranke entdeckten die wenige hunderte Quadratmeter große Fläche auf dem Weg zum damaligen Gesundheitsamt an der Bernestraße für sich. Sie nutzten sie als Refugium, Konsumraum, Lagerplatz. Und dass sich auch sonst niemand groß scherte, lässt sich noch dieser Tage an den Hinterlassenschaften ablesen: zwischen Einkaufswagen und Lattenrosten allerlei Hausmüll, leere Whisky-Flaschen, Ölkanister und die eine oder andere gebrauchte Spritze – lieber nicht durchstiefeln.
Man werde wohl die Künstlerin kontaktieren müssen, hieß es. Aber niemand tat es
Für die Reinigung, so stellte also der Umweltausschuss des Rates fest, werde man wohl den Kommunalen Ordnungsdienst einschalten müssen, das Amt für Straßen und Verkehr, klar, auch das Kulturamt, und freilich werde man auch das Okay der Künstlerin einholen müssen, so signalisierte damals die Umweltdezernentin. Weshalb die Angelegenheit auf die Tagesordnung des Kulturausschusses kam, von dort aber prompt wieder herunterrutschte: Die Politik entschied sich, die Anfrage der Liberalen auf schriftlichem Wege zu erledigen.

Offenbar eine schwere Geburt: Geschlagene neuneinhalb Monate dauerte es, bis am vergangenen Mittwoch plötzlich Tabula rasa gemacht wurde: Weg mit dem Gestrüpp, den Sträuchern, den teils gar nicht so dünnen Bäumchen. Nur vier größere Exemplare blieben stehen und sollen nun um besonders klimaresiliente und insektenfreundliche Arten wie Schnurbaum und Blauglockenbaum ergänzt werden. Dazu soll es blühen: sibirischer Blaustern, flankiert von Staudenbändern. Die Stadt ist entzückt und schwärmt schon jetzt von der langfristig „positiven Wirkung für das Stadtklima an dieser exponierten Stelle“.
Künstlerin Monika Günther ist enttäuscht und spricht von einem „kulturellen Kahlschlag“
Die Sache ist nur die: Die Künstlerin erfuhr davon bislang – nichts. Monika Günther, die seit Anfang der 2000er Jahre in der Schweiz lebt, zeigt sich vom rigorosen Vorgehen der Stadt bitter enttäuscht und spricht von einem „kulturellen Kahlschlag“. Es sei zwar nicht der erste, aber der bislang radikalste Eingriff in den „wilden Garten“, zu dem sich die Künstlerin in den 1980ern auch vom niederländischen Architekten und Öko-Pionier Louis le Roy hatte inspirieren lassen. Dem Niederländer habe die Stadt Essen in der Vergangenheit sogar einen Preis verliehen. Dass ihr Werk nun ohne jegliche Absprachen vom Kahlschlag betroffen sei, „damit hätte ich nie gerechnet!“, sagt Günther, „das tut mir richtig weh“.
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Das jetzt vorgestellte „Pflanzkonzept“ mit Rasenfläche, Staudenbändern und Schnurbaum-Bepflanzung habe jedenfalls nichts mehr mit der Ursprungsidee aus den 1980ern und einem „wilden Garten“ zu tun, welcher der Natur in der Stadt freie Entfaltung lässt. Das Konzept sei seinerzeit in Zusammenarbeit mit dem Grünflächenamt umgesetzt worden, das sich in den Anfangsjahren auch immer wieder um die innerstädtische Fläche gekümmert hätte, berichtet Günther. „Wilder Garten“ bedeute eben nicht, dass niemand darauf achten müsse. „Man kann ihn pflegen, aber nicht alles wegreißen.“
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Auf Anfrage mühte sich die Stadt Essen am Montag, die Rodung zu rechtfertigen: wies darauf hin, dass „der Pflege- und Reinigungsaufwand zur Erhaltung des Ensembles (...) in den vergangenen Jahren aufgrund der Fremdnutzung immer höher“ wurde, die Art der Reinigung durch die Drogenverstecke und den Drogenkonsum vor Ort „immer aufwendiger“. Beobachter können sich dagegen gar nicht daran erinnern, dass es in den letzten Jahren überhaupt nennenswerte Reinigungsaktionen gab.
Unklar auch, warum die Kulturverwaltung in über neun Monaten nicht ein einziges Mal auf den Trichter kam, kurzerhand bei Frau Günther anzurufen, um vor allem auch urheberrechtliche Fragen zu klären. Man habe den Kontakt gesucht, heißt es entschuldigend, „allerdings war dies aufwendig, da diese in die Schweiz verzogen ist“. Kurios: Die Redaktion bekam sie binnen eines halben Tages an die Strippe. Und warum die Stadt in einer begleitenden Pressemitteilung zwar wortreiche Klima-Prosa über das „Bernewäldchen“ bietet (das sich ganz woanders befindet), aber nicht ein einziges Wort darüber verliert, dass man da einem Kunstwerk zuleibe gerückt ist, bleibt ebenfalls offen. Im Kulturausschuss des Stadtrates wurde der Kahlschlag mittels einer eilends erstellten Vorlage mit vermeintlichen Verkehrsgefahren für die Drogenkranken gerechtfertigt, ein mit einigen Jahrzehnten Verspätung registriertes „Gefahrenpotenzial“, das Kenner der Örtlichkeit amüsiert: Schließlich existiert hier ein breiter beampelter Überweg.
Dem Kulturausschuss war das verschwundene Kunstwerk keine Diskussion wert
Dass man an Kunstwerken herumdoktert, auch das ist ja nichts Neues: 2016 nahm sich eine 91-jährige Frau die Collage „Insert Woods“ von Arthur Köpcke, eine Art Kreuzworträtsel, im Neuen Museum Nürnberg vor und füllte ein paar Kästchen aus. Und im russischen Jekaterinburg krakelte ein gelangweilter Wachmann den „Drei Figuren“ von Anna Leporskaya mit einem Kugelschreiber Augäpfel ins Gesicht.
Dem Kulturausschuss war das Verschwinden des wilden Gartens der Politik am Mittwoch (5. Februar) keine weitere Diskussion wert. Die Vorlage der Verwaltung wurde ebenso unkommentiert hingenommen wie der Abbau des Gedenkortes „Stadtwunde/Schwarze Poth 13“. Begründung in beiden Fällen: Die Werke seien ja im Laufe der Jahre „immer weiter verwahrlost“, so als zeichne die Stadt für diesen Umstand nicht selbst verantwortlich. Dabei wusste ja schon Karl Valentin: „Kunst ist schön, macht aber viel Arbeit.“
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