Essen-Steele. Neue Bücher und alte Möbel prägen die Buchhandlung von Annemarie Platzer in Steele so wie die lange Geschichte, manche Krise – und viele Frauen.
Auf rund 50 Quadratmetern reihen sich zahllose Bücher in den hohen dunklen Holzregalen aneinander, Krimis und Romane stapeln sich auf Tischen und stehen im Schaufenster auf einem Samttuch: Der kleine Buchladen in Steele ist nicht nur ein Ein-Frau-Betrieb, er ist wohl auch Essens älteste, noch bestehende Buchhandlung. Inhaberin Annemarie Platzer hat in der langen Geschichte gestöbert. Die begann bereits 1893, als die M. Westhoff‘sche Buchhandlung erstmals öffnete – damals noch am Grendplatz.
Heute liegt der Buchladen, den man durch die knarzende Tür betritt, an der Paßstraße. Innen erwarten die Kunden nicht nur die beiden mit Büchern bepackten Holzesel, sondern auch manches Mobiliar, das seit dem Einzug 1903 in dem Raum steht. Eine kleine Weinecke und der Onlinehandel gehören heute ebenso dazu wie regelmäßige Lesungen, bei denen sich bis zu 40 Gäste inmitten der Literatur treffen. „Dann steigen wir manchmal übereinander“, beschreibt Annemarie Platzer lächelnd die urige Atmosphäre bei den beliebten Treffen, für die der Platz um einen kleinen hinteren Raum erweitert wird. Ansonsten sind es vor allem Stammkunden, die ihre Beratung und das kleine Geschäft schätzen.

Die 63-Jährige hat schon während ihres Musik- und Germanistikstudiums in dem Buchladen gejobbt, so wie ihr erster und bereits verstorbener Mann Reinhard Platzer. Mit ihm hat sie das Geschäft bis zu seinem Tod 2018 geführt. Zu den Anfängen der Buchhandlung und den vielen Jahrzehnten danach haben sie schließlich Recherchen etwa in der Deutschen Nationalbibliothek in Leipzig, im Essener sowie im Steeler Archiv geführt.
Baedeker in der Essener Innenstadt war noch älter, existiert aber nicht mehr
An ihrer Seite war dabei Olaf Hagemeyer, der sich nicht nur in den Archiven auskennt, sondern schon mit ihrem Mann seinerzeit Schulbücher für die Buchhandlung ausgefahren hat. Annemarie Platzer und Olaf Hagemeyer haben jetzt den Bericht verfasst und im historischen Magazin des Steeler Archivs (Stela Historica) veröffentlicht. Sie berichten von früheren Inhabern, deren privaten Schicksalsschlägen und beruflichen Herausforderungen. Und von den Erfolgen, die dafür sorgten, dass Steele im Gegensatz zu anderen Stadtteilen immer noch seinen Buchhandel hat – nun wahrscheinlich den ältesten der Stadt.

„Baedeker war älter, aber die gibt es auch nicht mehr“, sagt Annemarie Platzer über das einstige Traditionsgeschäft in der Innenstadt. Ihre Nachforschungen für ihr Steeler Geschäft haben zudem eine Überraschung ergeben, denn in Zusammenhang mit diesem sei oftmals von den Männern die Rede gewesen. Tatsächlich aber lenkten vor allem Frauen die geschäftlichen Geschicke und sicherten immer wieder das Überleben des kleinen Ladens. Annemarie Platzer ist begeistert, so viel über die Geschichte ihres Geschäftes herausgefunden zu haben.
Gründer sah im aufstrebendem Steele eine gute Geschäftsperspektive für Buchhandel
Dessen Gründer war der Buchhändler Melchior Friedrich Maria Westhoff, der zuvor in Münster, Straßburg, Schwäbisch Gmünd, Bochum und schließlich in Bocholt gearbeitet hat, bevor er 1893 nach Steele zog. Warum? Er habe möglicherweise als „Buchhandelsgehülfe“ Steele kennengelernt und in der aufstrebenden Stadt eine gute Geschäftsperspektive gesehen, vermuten die Autoren Annemarie Platzer und Olaf Hagemeyer. Immerhin habe sich die Einwohnerzahl seinerzeit innerhalb von kaum 20 Jahren auf rund 14.400 verdoppelt.
Als Melchior Westhoff sein Geschäft eröffnete, galt das nach einer Anzeige aus der Zeit jedenfalls als „Buch-, Kunst- und Musikalienhandlung“. Er bot aber auch Stahl- und Kupferstiche und Bilderrahmungen an. Rasch lernte der Junggeselle Maria kennen, die seine Frau wurde. Das junge Familienglück mit zwei Kindern währte jedoch nicht lange, da erst der Sohn im Alter von vier Jahren starb, wenig später der Vater mit 32 Jahren. Zurück blieb die Witwe mit ihrer kleinen Tochter Caroline und dem Geschäft.

Zur Hilfe eilte damals ihre Schwester Theodora („Dorchen“) und die beiden Frauen betrieben den Laden gemeinsam – „Ende des 19. Jahrhunderts, als die Rechte von Frauen massiv eingeschränkt waren.“ Als Dorchen schließlich heiratete (Fritz Vollmer suchte die Westhoff‘sche Buchhandlung wohl als reisender Buch-, Papier oder Schreibwarenhändler auf und lernte Dorchen kennen), kaufte ihr Mann schließlich 1902 die Buchhandlung und erlernte das Buchhändlergeschäft bei seiner Schwägerin. Schon da plante er das Wohn- und Geschäftshaus an der Paßstraße 6 (heute 32), in das Familie und Buchhandlung 1903 zogen.
Während Maria Westhoff Steele dann aber verließ, lief es für ihre Schwester in dem Stadtteil privat und beruflich gut. Sie bekam mit ihrem Mann sechs Kinder. In der Buchhandlung konzentrierten sie sich auf Schreibwaren, Musikalien und Bücher und waren trotz des Ersten Weltkriegs so erfolgreich, dass das Schulgeld für alle Kinder reichte, die anschließend auch alle studierten. Die jüngsten Töchter Ruth und Carola stiegen schließlich um 1930 für ein Taschengeld in den elterlichen Betrieb ein. Als dann das Vermögen nach dem Tod der Eltern 1941 unter den Geschwistern aufgeteilt wurde, erhielten die beiden die Buchhandlung.
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Erneut waren es also Frauen, die sich in schwierigen Zeiten behaupten mussten. Denn nicht zu heiraten und eine berufliche Tätigkeit auszuüben, entsprach nicht der nationalsozialistischen Ideologie und Sanktionen seien die Folge gewesen, heißt es zu dem Kapitel der Buchladen-Geschichte. So traten Ruth und Carola der NS-Volkswohlfahrt bei, wahrscheinlich, um das elterliche Geschäft übernehmen zu können. Denn ansonsten hätten sie keinerlei Ämter bekleidet uns seien auch nicht Mitglieder der NSDAP gewesen. Nach dem Krieg seien sie dann als „nicht belastet“ eingestuft worden.
Wie lange die Buchhandlung nach dem Ende des Krieges schließen musste, das sei nicht überliefert. Fest steht aber, dass Ruth Vollmer die Aufnahme des Geschäfts 1947 beantragte. Ihre Schwester heiratete indes den aus Steele stammenden Heinrich Bast, der die Buchhandlung fortan leitete. Als Ruth Vollmer 1975 starb, wurde ihre Schwester Carola Bast Alleinerbin.

Die dritte große Krise für die Familie folgte, als Carola Bast nur kurz nach dem Tod ihrer Schwester schwer erkrankte (sie starb 2000), ihr Mann sie pflegte und sich gleichzeitig um den Laden kümmerte. Da das eine große Belastung bedeutete und die beiden zudem kinderlos waren, tauchten bald Gedanken an eine Geschäftsübergabe auf – erstmals an jemanden außerhalb der Familie.
Ein Glücksfall, dass da schon Reinhard Platzer in der Buchhandlung aushalf. Er hatte zuvor sein Abitur am Carl-Humann-Gymnasium absolviert, studierte Germanistik und fuhr als Aushilfskraft Schulbücher aus. Die Buchhandlung kannte er schon als Kind, wurde dann 1979 fest angestellt und übernahm sie 1981. „Das hat sich damals so ergeben“, blickt Annemarie Platzer auf die Zeit zurück.
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Reinhard Platzer galt da schon nicht nur als Kenner der Literatur und des Geschäfts, sondern ebenso als Seelenverwandter von Heinrich Bast. Was die beiden Männer verband, war auch ihre Leidenschaft für die Kunst. So betrieb Heinrich Bast noch geraume Zeit eine Galerie in seinem früheren Geschäft. Reinhard Platzer wiederum war vor allem schon in jungen Jahren begeisterter Fotograf, so dass seine Bilder von Reisen und Sahara-Fahrten sowie die Figur „Leser“ aus der Bretagne auch heute noch die Wände und das Schaufenster dort schmücken
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Es war auch 1981, als Reinhard und Annemarie heirateten und ihren kleinen Laden fortan als Ehepaar Platzer gemeinsam führten und den Verkauf von Schulbüchern ausbauten. Es folgten dann ihre beiden Kinder sowie ein Commodore C64 samt selbst geschriebener Programme und 2005 ein Eintrag im Handelsregister als „Westhoff‘sche Buchhandlung Platzer“. Die feierte ihren 100. Geburtstag 1993 eher ruhig und elf Jahre später eine Premiere: die erste Lesung.
Reinhard Platzer selbst habe die Feier zum 125. Geburtstag des Geschäfts noch sehr genossen. Das war im März 2018, wenige Wochen später starb er. Seitdem führt Annemarie Platzer die Buchhandlung allein weiter, musste zunächst nach der Insolvenz ihres langjährigen Grossisten reagieren, führte den Online-Shop ein und trotzte der Pandemie mit Schleusen, einem Regal außerhalb des Geschäfts und schließlich dem Bücherfenster samt Klingel. Das habe sich als so praktisch erwiesen, dass es bis heute als „Drive In“ von Fahrradfahrern, Kunden mit Kinderwagen oder Rollatoren gern genutzt wird, wenn sie ihr Buch abholen.

„Bei uns ist vor allem Belletristik gefragt, aber auch Fachbücher werden häufig bestellt“, sagt Annemarie Platzer. Wer sie nach einem Buchtipp fragt, der bekommt gleich eine Fülle. Weil es einfach so viele empfehlenswerte Bücher gebe, wie etwa McCartens „Going Zero“ („gerade als Taschenbuch erschienen“), die neuen Titel von Ewald Arenz („Zwei Leben“) oder „Anständige Leute“ von Leonardo Padura, sprudelt es aus ihr heraus.
Inhaberin betreibt ihren Buchladen in Essen-Steele allein
Bei älteren Titeln sei es wiederum beispielsweise „Nacht im Central Park“ von Guillaume Musso. Und Thomas Mann, der 1875 geborene Literatur-Nobelpreisträger, gehöre in diesem Jahr natürlich zu den Empfehlungen. „Zu meinen Lieblingsbüchern zählt ,In geheimer Mission‘ von Fritz Mühlenweg“, sagt Annemarie Platzer. „Willkommen auf Tuga“ von Francesca Segal auch, ergänzt die Buchliebhaberin gleich.
Mit diesem Enthusiasmus will sie weitermachen, mag noch überhaupt nicht daran denken, wie es nach ihrem Ruhestand an der Paßstraße weitergehen soll. „Ich hänge ebenso sehr an dem Laden wie mein erster Mann“, sagt sie. Um das Geschäft an ihre Kinder zu übergeben, sei sie schlichtweg zu jung gewesen. Die beiden seien andere Wege gegangen, während Annemarie Platzer nun ihren zweiten Ehemann Thorsten Rüffer an ihrer Seite weiß. Den kleinen Buchhandel irgendwann gemeinsam mit ihm zu betreiben – das ist ihr Wunsch. Derzeit aber bleibt es ein weiteres Mal ein kleiner Buchladen in Frauenhand.
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