Essen. Der Kita-Fall wirft ein Schlaglicht auf eine Erkenntnis der Stadt Essen: Der Verdacht trifft auch Unschuldige. Warum die Ermittlungen trotz Todesfall weitergehen.

An einem wolkenverhangenen Montag im Dezember verliert ein Mensch aus Essen im münsterländischen Freckenhorst sein Leben. Sein blauer Dacia ist auf der schmalen Straße, die durch diesen gelbgrünen Flickenteppich aus Wiesen und Feldern führt, frontal gegen eine kleine Baumgruppe geprallt, dabei vermerkt der Polizeibericht hier doch nur „eine leichte Rechtskurve“. Und fügt dann noch hinzu, dass ein Spezialistenteam aus dem nahen Münster hinzugezogen wurde, um die Unfallursache zu klären. Diese findet sich dem Vernehmen nach in einem aufgetauchten Abschiedsbrief.

Drei Tage vor dem Unfall gab es eine Hausdurchsuchung, bei der Datenträger beschlagnahmt wurden

Es gehört zum Branchen-Kodex, dass Medien bei solchen Ereignissen gemeinhin Zurückhaltung pflegen. Aber Zurückhaltung zu üben heißt in diesem Fall eben nicht: zu verschweigen, dass es sich hier um jene Person aus Essen handelt, gegen die zum Todeszeitpunkt erst seit wenigen Tagen Ermittlungen wegen des Verdachts des sexuellen Missbrauchs von Kindern liefen; Kinder, die ihr im Rahmen der Kindertagespflege anvertraut waren. Drei Tage zuvor hatten die Ermittler bei einer Hausdurchsuchung diverse Datenträger beschlagnahmt, sie sollen klären, was nach wie vor keineswegs geklärt ist: Gab es einen Missbrauch?

Einsatzkräfte im Münsterland und der an der Baumgruppe zerschellte Dacia.
Einsatzkräfte im Münsterland und der an der Baumgruppe zerschellte Dacia. © Feuerwehr Warendorf/Löschzug Freckenhorst

Stadt berät in Fällen sexualisierter Gewalt

In Essen zählt das Jugendamt insgesamt 831 Kindertagesmütter und -väter, die 3175 Kinder betreuen (Stand: Ende Juni 2024). Seit 2019 gab es sieben Verdachtsfälle von sexuellem Missbrauch an Kindern, zwei davon konnten ausgeräumt werden.

Bei sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche bietet eine gemeinsame Fachberatungsstelle des Jugendpsychologischen Institutes des Jugendamtes und des Kinderschutzbundes Hilfe an.

Weitere Infos unter www.essen.de/gegensexualisiertegewalt

Der Inhalt des Abschiedsbriefs soll nach Informationen der Redaktion jedenfalls keine endgültige Klarheit liefern, sondern eher vage geblieben sein. Herauszulesen sei aber wohl, so heißt es, dass die beschuldigte Person die Situation, in der sie nach der von Eltern erstatteten Strafanzeige steckte, nicht länger ertragen wollte oder konnte.

Freunde beklagen gegenüber der Redaktion, mit den von Polizei und Jugendamt aufgegriffenen Vorwürfen habe man „ein Menschenleben zerstört“ – und das zu einem Zeitpunkt, als der Verdacht und die folgende Schließung der betroffenen Kindertagespflege-Einrichtung noch gar kein Thema von Berichterstattung waren. Für die guten Bekannten sind die Anschuldigungen abwegig: Sie behalten „einen tollen Menschen in Erinnerung, der uns genommen wurde“.

Nur gerade eben kann der Rettungshubschrauber auf der kleinen Straße im münsterländischen Freckenhorst landen.
Nur gerade eben kann der Rettungshubschrauber auf der kleinen Straße im münsterländischen Freckenhorst landen. © Feuerwehr Warendorf/Löschzug Freckenhorst

Die Suche geht weiter: nach möglichen Opfern genauso wie nach möglichen Mittätern

Die Nachricht vom Tod der Pflegeperson hinterlässt auch bei den Ermittlern ein mehr als nur ungutes Gefühl. Denn Vorwürfe des sexuellen Kindesmissbrauchs sind ohne forensische Beweise heikel. Im Bereich der Kindertagespflege aber, wo die betreuten Kinder in der Regel nicht älter sind als drei Jahre, bewegen sich Polizei und Staatsanwaltschaft auf besonders dünnem Eis.

Hier gibt es Hilfe in Krisensituationen

Wenn Sie sich in einer akuten Krise befinden, wenden Sie sich bitte an Ihren behandelnden Arzt oder Psychotherapeuten, die nächste psychiatrische Klinik oder den Notarzt unter 112. Sie erreichen die Telefonseelsorge rund um die Uhr und kostenfrei unter 0800-111 0 111 oder 0800-111 0 222. 

Dies zeigt auch ein Rückblick auf die Verdachtsfälle der fünf Jahre von 2019 bis 2023: In dieser Zeit gab es nach Angaben des Essener Jugendamtes Verfahren gegen drei Beschuldigte. In einem Fall erfolgte auch eine gerichtliche Verurteilung, in zwei Fällen aus den Jahren 2021 und 2023 wurden die Ermittlungen nach Angaben der Stadt jedoch eingestellt. „Die Kindertagespflegepersonen arbeiten wieder“, signalisiert die Sprecherin des Jugendamtes, Stefanie Kutschker.

In den vier Verdachtsfällen, die 2024 angezeigt wurden, gibt es noch kein Ergebnis

Was ja wohl bedeutet: Wer immer dort Strafanzeige erstattete, hatte sich offenbar getäuscht, kindliches Verhalten vielleicht überinterpretiert, Aussagen oder Spielverhalten der Kinder falsch gedeutet. Von den vier Fällen, die allein 2024 unter die Lupe kamen, ist bislang noch keiner zum Abschluss gekommen, ja, selbst der Tod der beschuldigten Person, die Ende November unter Missbrauchs-Verdacht geriet, beendet nun nicht automatisch die Ermittlungsarbeit. Wie Leif Seeger, der Sprecher der Staatsanwaltschaft Essen, betont, gelte es zum einen, mögliche Opfer für den Fall ausfindig zu machen, dass es tatsächlich einen Missbrauch gab. Zum anderen müsse für eben diesen Fall auch geklärt werden, ob Mittäter existieren.

  • Die Lokalredaktion Essen ist auch bei WhatsApp! Abonnieren Sie hier unseren kostenlosen Kanal: direkt zum Channel!

Aber was, wenn es keinen Missbrauch gab? Im Raum steht fraglos auch die Möglichkeit, allein die Aufnahme der Ermittlungen könnte einen so großen Druck ausgelöst haben, dass die beschuldigte Person glaubte, diesen nicht aushalten zu können. Das belastet bei aller professionellen Distanz auch die Ermittler außerordentlich. Sie durchforsten jetzt die Datenträger nach belastendem Material, offenbar auch mit Hilfe Künstlicher Intelligenz.

Im Hinterkopf ist dabei die Möglichkeit, einen gänzlich Unschuldigen im Visier gehabt zu haben. Den Verdacht nachträglich rechtfertigen zu können, am Ende doch eine Bestätigung zu bekommen, dass man auf der richtigen Spur war, würde den seelischen Druck nehmen. Einer von ihnen bringt es deshalb so auf den Punkt: „Hoffentlich finden wir was.“

[Essen-Newsletter hier gratis abonnieren | Folgen Sie uns auch auf Facebook, Instagram & WhatsApp | Auf einen Blick: Polizei- und Feuerwehr-Artikel + Innenstadt-Schwerpunkt + Rot-Weiss Essen + Lokalsport | Nachrichten aus: Süd + Rüttenscheid + Nord + Ost + Kettwig und Werden + Borbeck und West | Alle Artikel aus Essen]