Essen. Über 800 Tagesmütter und -väter schließen stadtweit die Betreuungslücke für kleine Kinder. Doch mehrfach ergab sich ein ungeheurer Verdacht.

Mama ist Lehrerin, Papa Mediziner, und die beiden fordernden Berufe mit dem Familienleben zu verbinden – überhaupt kein Problem. Denn nicht wahr, ihre beiden Kinder wissen sie ja seit ein paar Monaten in einer Essener Kindertagespflege gut betreut. Das denken sie jedenfalls, bis eines November-Morgens um kurz vor acht dieser Anruf kommt, an der Strippe die Betreuungsperson, bei der sie ihre lieben Kleinen ein Dreiviertelstunde zuvor abgegeben haben: Holen Sie bitte sofort Ihre Kinder ab, lautet die Ansage sinngemäß: „Gegen mich besteht der Verdacht des sexuellen Missbrauchs.“

Der Vater wird später sagen, dass sie auch Tage danach als Eltern noch „emotional am Ende und verzweifelt“ sind. Es ist das Gefühl, in einer Ausnahme-Situation „absolut alleine gelassen“ zu sein, während die Gegenüber bei der Stadt ihr professionelles Programm abspulen. Und dabei für Vater und Mutter vielleicht eine Spur zu viel Gelassenheit ausstrahlen: „Die Kinder waren doch angezogen und wirkten glücklich“, dieser Satz sei gefallen, sagt der Vater. Danke dafür. Einer fremden Person das eigene Kind zu überlassen, das ist eben ein gewaltiger Vertrauensbeweis, und die jungen Eltern fragen sich, wieso niemand ihr Entsetzen teilt, wo doch der ungeheure Verdacht im Raum steht, ausgerechnet diese Person könnte sich an den Kleinen wie auch immer vergangen haben.

Es ist schon der vierte Verdachtsfall auf sexuellen Missbrauch in der Kindertagespflege in diesem Jahr

Es ist dies, so viel steht fest, ein gottlob seltener Umstand, aber beileibe kein Einzelfall. Und natürlich signalisierte die Stadt am Dienstag auf Nachfrage, dass man stets hochsensibel reagiere, jeden Verdacht auch umgehend ausräumen will. Tatsächlich musste das Essener Jugendamt im laufenden Jahr schon viermal Mutmaßungen für einen sexuellen Missbrauch in der Kindertagespflege nachgehen. Bei 831 Kindertagesmüttern und -vätern und insgesamt 3175 betreuten Kindern (Stand: Ende Juni 2024) auch für das Jugendamt alles andere als eine beruhigende Bilanz, wie Sprecherin Stephanie Kutschker einräumt.

Stadt berät in Fällen sexualisierter Gewalt

In Essen zählt das Jugendamt insgesamt 831 Kindertagesmütter und -väter, die 3175 Kinder betreuen (Stand: Ende Juni 2024). Seit 2019 gab es sieben Verdachtsfälle von sexuellem Missbrauch an Kindern, zwei davon konnten ausgeräumt werden.

Bei sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche bietet eine gemeinsame Fachberatungsstelle des Jugendpsychologischen Institutes des Jugendamtes und des Kinderschutzbundes Hilfe an.

Weitere Infos unter www.essen.de/gegensexualisiertegewalt

Und wiewohl es naheliegt, über eine Dunkelziffer zu sinnieren, weil die betreuten Gruppen klein und die Kinder in den allermeisten Fällen unter drei Jahren und damit für detaillierte Schilderungen womöglich noch nicht alt genug sind, so gilt doch auch, dass eine Missbrauchs-Ahnung auch in die Irre führen kann.

Das Jugendamt reagierte umgehend: Die Betreuungs-Erlaubnis ist bis auf weiteres „ruhend gestellt“

Was genau im letzten Fall dazu geführt hat, dass eine Familie Strafanzeige erstattete, den für die Fachaufsicht zuständigen Wohlfahrtsverband kontaktierte und dieser dann das Jugendamt einbezog, bleibt im Ungefähren. Denn das Jugendamt formuliert mit Rücksicht auf alle Beteiligten und den Datenschutz nur, wie sie prinzipiell vorgeht: Es könne sein, dass Kinder „sexualisiertes Spielverhalten an den Tag legen oder andere Auffälligkeiten und Aussagen dazu führen, dass der Verdachtsfall geprüft wird“.

Mehr an Informationen gibt‘s nicht: nicht den putzigen Namen der Einrichtung, nicht den Stadtteil, geschweige denn die Adresse und Angaben über die Pflegeperson oder die Zahl der von ihr betreuten Kinder. Das alles ist Absicht, auch vonseiten dieser Redaktion, denn zum einen besteht keine Wiederholungsgefahr: Die Betreuungs-Erlaubnis für die beschuldigte Person ist vorerst „ruhend gestellt“, die Einrichtung dicht gemacht. Und der ungeheuerliche Verdacht, dass die Kindertagespflege als Kulisse für den sexuellen Missbrauch von Kindern diente, wird zum anderen nun ein Fall für die Justiz.

Die beschlagnahmten Datenträger der Betreuungsperson auszuwerten – das kann dauern

Ob überhaupt und was sich an dem Missbrauchs-Verdacht erhärten lässt, ist derzeit völlig unklar. Leif Seeger, Sprecher der Essener Staatsanwaltschaft, bestätigt auf Nachfrage, dass die Behörde Ermittlungen mit Blick auf den Vorwurf des sexuellen Missbrauchs von Kindern aufgenommen hat. Im Rahmen einer Durchsuchung bei der beschuldigten Person wurden ein Handy und zwei Computer, ein Laptop und drei Tablets sowie diverse Datenträger beschlagnahmt. Ob diese gänzlich belangloser Natur sind oder den Verdacht stützen, die Antwort auf diese Frage könnte Wochen, vielleicht auch Monate dauern.

Einige der betroffenen Kinder sind nur knapp über ein Jahr alt, können sich also sprachlich gar nicht groß artikulieren. Bei etwas älteren Kindern könnten Aussagen mittels Glaubwürdigkeits-Gutachten bewertet werden, sagt Staatsanwalt Seeger. Es bleibt ein schwieriges Unterfangen, so viel steht fest. Klar scheint, dass die Stadt Essen, die mit den mehr als 800 Kindertagespflegekräften stadtweit eine echte Betreuungslücke für kleine Kinder stopft, sich nicht gänzlich vor solchen Fällen schützen kann. Der für die Fachaufsicht zuständige Wohlfahrtsverband zeigt sich im Gespräch mit der Redaktion erschüttert über die Anschuldigungen und versichert, im Vorfeld das übliche Prozedere eingehalten zu haben: Bedingung für einen abgeschlossenen Betreuungsvertrag ist danach unter anderem ein erweitertes polizeiliches Führungszeugnis und ein bis dahin einwandfreier Leumund.

„Nach der Schließung hat uns niemand gesagt, wie es weitergeht“, beteuert der Vater

Nachhaltig irritiert zeigte sich im Gespräch mit der Redaktion eines der Elternpaare, dessen Kinder von der Tagespflegeperson betreut wurden: „Nach der Schließung hat uns niemand gesagt, wie es weitergeht“, beteuert der Vater, der zumindest die Bitte erwartet hätte, die Kinder vorsichtshalber einem Arzt vorzustellen. „Haben die denn keinen Notfallplan?“

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Doch, den gibt es, betont Jugendamts-Sprecherin Kutschker, auch wenn das professionelle schrittweise Vorgehen der Stadt bei den aufgelösten Eltern womöglich so nicht angekommen sei. Dass die Kindertagespflegeperson sogar die Möglichkeit bekam, die Eltern selber zu informieren und in diesem Fall nicht etwa Übelkeit vortäuschte, sondern kurzerhand sagte, was ihr vorgeworfen wird, entspringt nicht etwa einer unangenehmen Panne, sondern folgt dem Prinzip der Zurückhaltung bei den Einzelheiten: „Das Jugendamt darf die Eltern aufgrund der polizeilichen Ermittlungsarbeit nicht über Details informieren“, versichert die Stadt.

Die Eltern hätten auf diese Erfahrung gern verzichtet – und sind doch letztlich auf die Hilfe des Jugendamtes angewiesen: Mehrere alternative Betreuungsstellen wurden angeboten, versichert das Jugendamt. Die Eltern setzen dabei diesmal auf den größeren Betreuungsrahmen einer Kindertagesstätte. Eine Kindertagespflege wäre zwar kleiner, vielleicht auch feiner.

Aber das Vertrauen ist weg.

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