Essen. Was bedeutet die Entwicklung in Syrien für die Landsleute in Essen? Die Stadt „sondiert noch die Lage“ – und der OB warnt vor voreiligen Schlüssen.

Das mit den Syrern, sagt Essens Oberbürgermeister Thomas Kufen seufzend, „das ist kein Thema für den Wahlkampf“. Es ist einer dieser staatstragenden Sätze, mit denen die Politik gern vor voreiligen Schlüssen warnt – obwohl ihr doch längst schwant, dass es genau so kommen wird. Denn im migrationskritischen Klima dieser Tage liegt die Frage ja in der Bundespolitik wie auch vor der Haustür verführerisch nahe: was denn nun wird, wenn für die drittgrößte ausländische Bevölkerungsgruppe der Stadt mit fast 20.000 Personen eine der großen Flucht-Ursachen, das blutige Assad-Regime, im Eiltempo aus dem Weg geräumt ist.

Die FDP fordert „schnell Klarheit“ in einer Frage, in der für die Stadt noch vieles im Unklaren bleibt

Wie auf Bestellung meldete sich am Mittwoch die örtliche FDP und forderte „schnell Klarheit“ in einer Sache, bei der, so sieht es jedenfalls die Stadtspitze, noch längere Zeit vieles unklar bleiben dürfte – und in der schon gleich gar nichts „schnell“ geht. Zwar bescheinigte vor gut drei Jahren eine Studie mit immerhin rund 1500 Teilnehmern, dass die meisten Syrer nach Essen kamen, um zu bleiben. Aber das war ja die Reaktion auf die alten Verhältnisse in der Heimat. Und nun?

Seit Anfang 2022 haben 3284 Syrer in Essen einen Antrag auf Einbürgerung gestellt, 1791 davon sind noch offen, bei 226 Personen wurde die Einbürgerung abgelehnt.
Seit Anfang 2022 haben 3284 Syrer in Essen einen Antrag auf Einbürgerung gestellt, 1791 davon sind noch offen, bei 226 Personen wurde die Einbürgerung abgelehnt. © dpa | Fernando Gutierrez-Juarez

Der OB würde sie gern kurzerhand fragen, „aber es gibt nicht die eine Telefonnummer der Syrer in Essen“. Will sagen: Die Landsleute sind kaum in Vereinen organisiert, und am Ende dürften die Antworten so bunt ausfallen, wie das ethnische, religiöse und sprachliche Farbspektrum des 4000 Kilometer entfernten Vielvölkerstaates. Es gibt arabische, kurdische, armenische, turkmenische, aramäische und palästinensische Syrer, und nur so viel ist für Thomas Kufen klar: „Dass die alle auf gepackten Koffern sitzen, davon ist nicht auszugehen.“

Freiwillige Rückkehr-Programme statt Zwang gelten als probates Mittel auch im Falle der Syrer

Der Oberbürgermeister macht keinen Hehl daraus, dass auch seine Stadtverwaltung sich auf die neue Lage erst einstellen muss: „Wir sortieren und sondieren noch“, sagt Kufen, der – eine stabile politische Lage vorausgesetzt – viel von freiwilligen Rückkehr-Programmen hielte und wenig von Zwangsmaßnahmen. Die legen großspuriges Durchgreifen nahe, wo der Rechtsstaat eh von vornherein abwinkt. Rechtsdezernent Christian Kromberg etwa kann einem die unterschiedlichen Schutz-Tatbestände nahebringen, dass nur so die Paragrafen fliegen: Asyl, ein Flüchtlingsstatus laut Genfer Flüchtlingskonvention und subsidiärer Schutz, die lassen sich nicht par ordre du mufti aus dem Weg räumen, sondern müssten in einem komplexen zweistufigen Verfahren individuell beschieden werden, Klagemöglichkeit inklusive.

Essens Oberbürgermeister Thomas Kufen hält Rückkehrprogramme für Syrer für durchaus sinnvoll, sie könnten allerdings nicht aus kommunalen Mitteln bestritten werden. Nur „Nichtstun ist keine Option“, sagt der OB.
Essens Oberbürgermeister Thomas Kufen hält Rückkehrprogramme für Syrer für durchaus sinnvoll, sie könnten allerdings nicht aus kommunalen Mitteln bestritten werden. Nur „Nichtstun ist keine Option“, sagt der OB. © FUNKE Foto Services | Lars Heidrich

Das könnte, sagt Kromberg, „Behörden in den Kollaps führen“ und die Verwaltungsgerichte wohl auch, weshalb er als Verwaltungsvorstand, zuständig für Recht und Ordnung, empfiehlt, dass sich die Politik in Essen und anderswo erst einmal um die tatsächlich schon jetzt ausreisepflichtigen, bislang aber „geduldeten“ Syrer kümmern möge: In Essen sind es 85 an der Zahl, nicht nur aber auch Straftäter darunter: „Auf die sollten wir uns erst einmal konzentrieren“, betont Kromberg, „das ist schon Arbeit genug“.

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Und nur so viel ist für alle Beteiligten klar: Dass man sich jetzt Gedanken über das große Ganze machen muss, die Sache nicht schleifen lassen. „Nichtstun ist keine Option“, sagt OB Thomas Kufen, denn das könne Strukturen auf Jahre hinaus zementieren und „hilft bei der Integration der Menschen überhaupt nicht“. Dies sei die große Lehre aus dem einst gepflegten Umgang mit den Flüchtlingen im Zuge des Bürgerkriegs im Libanon.

Von 16.000 Personen mit ausschließlich syrischer Staatsangehörigkeit beziehen 10.000 Bürgergeld

Und gleichzeitig solle die Politik bei allem Bemühen um Integration die offensichtlichen Probleme nicht verschweigen: Von etwa 16.000 Personen mit ausschließlich syrischer Staatsangehörigkeit bezögen rund 10.000 Bürgergeld. Von denen aber seien zwei Drittel erwerbsfähig: Das zu ändern, dafür „werden wir alle Register ziehen müssen“, denn wenn die „etablierten“ Parteien das Problem nicht benennen „werden das andere tun“. Die FDP fing am Mittwoch an. Die Syrer scheinen als Thema für den Wahlkampf bestens geeignet.

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